Verschiedene: Die Gartenlaube (1888) | |
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noch verschleiert hielten. Aber mehr und mehr mit jeder Sekunde hob sich da drüben der Nebel, weiter und weiter wuchs am Himmel das Blau, und bald lag wolkenlos und in sonniger Pracht jene ganze herrliche Felsenkette vor meinen Augen gebreitet, von dem gezahnten Grat des hohen Göhls bis zu den plumpen Felskolossen der Fundensee-Tauern, hinter welchen in hoher Ferne die scharfen Spitzen der Teufelshörner aufwärts stachen über das blendend weiße Schneemeer der Uebergossenen Alm.
Nur ungern trennte sich mein Blick von dem leuchtenden Bilde, am zurückzukehren auf den schattendunklen Grund zu meinen Füßen. Und da bekam ich denn gleich eine Mahnung, daß es bereits an der Zeit wäre, die Augen bei der Sache zu halten. Kaum hundert Schritte unter mir war eine Rehgais mit ihrem Kitz auf den schmalen Wiesenfleck getreten, mit dem sich der Schlag zu meiner Linken in die Dickung spitzte. Fleißig äsend zog das Kitzlein über das Gras; die Gais aber stand mit erhobenem „Grind“ und hielt die großen dunklen „Lichter“ unverwandt auf mich gerichtet. Halb die Augen schließend, saß ich regungslos – und da schüttelte sie endlich die „Lauscher“ und begann zu äsen. Die Sache mochte ihr aber doch nicht ganz geheuer dünken, denn wieder warf sie windend den „Grind“ in die Höhe, um dann plötzlich mit kurzen Fluchten in das Dickicht zu verschwinden, wohin ihr das Kitzlein nach einigem Zögern in sichtlicher Verwunderung folgte.
Lächelnd athmete ich auf und ließ die Blicke nach allen Winkeln des weiten Schlages streifen, über dessen üppigen dunkelgrünen Kräuterwuchs in wirrem Wechsel die braunen Baumstöcke und Wurzelknorren, die moosigen Felsblöcke und die weißen Steine ragten. Weit drüben senkte sich der Schlag über einen lang gezogenen Rücken einem Dickicht zu, von dem ich nur die höchsten Wipfel gewahren konnte. Kleine Tannengebüsche hielten diesen Rücken besetzt, und zu oberst auf ihm erhob sich ein riesiger Felsblock, auf dessen Platte einzelne halbgewachsene, meist dürre Bäumchen schief durch einander hingen. In der Mulde, welche die Höhe da drüben von meinem Sitze trennte, rann mit Murmeln und Gurgeln ein unter Kräutern und Farren verstecktes Bächlein. Zu dem melancholischen Geplauder dieses Wassers gesellten sich die pispernden Stimmen der Meisen, die zwischen Büschen und Steinen so eilfertig hin- und wiederflatterten, als hätten sie allerlei wichtige Dinge noch schnell zu besorgen, bevor der Tag zu Ende ging. Aus dem höheren Dickicht ließ sich der weiche Schlag einer Bergamsel hören, während vom tieferen Gehänge herauf der krächzende Schrei eines Tannenhähers und ab und zu das hastige Pochen eines Spechtes klang. Weit über den See einher scholl manchmal, durch die Ferne gedämpft, das Brüllen der auf den Almen weidenden Rinder und das matt vernehmbare Läuten ihrer tieftönenden Glocken.
Einmal auch hörte ich fauchende Flügelschläge über mir, und als ich zur Höhe blickte, gewahrte ich einen der grossen Bergraben, der durch die gelbleuchtende Abendluft seinem Horst entgegen strich. Während ich dem Zug des Raben folgte, trafen meine Augen auf den steilen Lahnstreif, welcher hoch über mir das Dickicht aus einander theilte. Da meinte ich „Roth“ zu sehen. Langsam richtete ich das Fernrohr. Ein Gabelhirsch und zwei „Kälberstücke“ mit ihren Kälbern erschienen mir im Glase. Befriedigt legte ich das Fernrohr bei Seite – der frühe Auszug dieses Rudels weckte gute Hoffnung in mir.
Rasch warf ich noch einen Blick auf die Uhr – ein Viertel vor acht, der Beginn der „besten Zeit“; dann ließ ich meine Augen mit gesteigerter Emsigkeit über den Saum der Dickung auf- und niedergleiten Im scharfen Spähen mußte ich schon die Brauen furchen, denn die Schatten begannen sich bereits zu vertiefen, und allmählich dämpfte sich der grelle Schein des Himmels. Es wurde stiller und stiller um mich her, in der Ferne verstummte das Brüllen und Läuten der Rinder, die Vogelstimmen klangen sanfter und seltener, und bald vernahm ich nur noch das Murmeln des kleinen Baches. Aber auch dieses schien mit jeder Sekunde leiser und leiser zu werden – einmal noch, kurz vor Einbruch der eigentlichen Dämmerung, ließen sich mehrere Vogelstimmen zugleich vernehmen – dann plötzlich schien der Bergwald wie ausgestorben – und nun begann es in meinen Ohren allmählich anzuklingen , jenes seltsame, unbeschreibliche Geräusch, das jeder Waidmann kennen wird, der zur Sommerszeit auf dem abendlichen Ansitz auch noch auf andere Dinge merkt, als nur auf das Brechen des Wildes im Dickicht. Das ist wie ein Singen und Zirpen zahlloser Thierchen, wie ein Zwitschern von tausend Vöglein, wie ein Brummen und Summen von Hummeln und Bienen, aber unendlich leise, nur eben noch vernehmbar. Bald scheint es in der Luft zu liegen, bald wieder aus der Erde zu quellen - und man fragt sich, ob man es wirklich hört oder ob es nur eine akustische Täuschung ist, eine Folge des stundenlangen angestrengten Lauschens.
Wieder einmal, wie schon so häufig, legte ich mir im Stillen diese Frage vor, als mich ein fiepender Laut aus meinem Sinnen weckte. Tief aus dem Dickicht scholl das „Blatten“ einer Rehgais. Kaum hatte ich den Laut vernommen, da hörte ich vom Schlag herüber das Brechen dürrer Zweige – und als ich hastig die Augen wandte, sah ich ein Reh mit rasender Flucht im Dickicht verschwinden. Das mußte ein Rehbock gewesen sein, der in brünstigem Eifer den lockenden Liebeslauten folgte. Woher war er gekommen? Hatte er auf dem Schlage gestanden, ohne daß ich ihn bemerkt hatte?
Unter der ärgerlichen Befürchtung, daß mir der liebestolle Bursche durch seinen lauten Eifer den Hirsch vergrämt haben könnte, der, wenn er überhaupt ans Kommen dachte, schon im Auszug begriffen war – unter solcher Befürchtung blickte ich unwillkürlich nach den tieferen Gehängen des Schlages, von denen der Störenfried gekommen sein mußte. Doch unerwartet zog ein wundervolles Schauspiel meine Augen über das Seethal nach den fernen Bergen. Dort waren die grauen Schatten schon emporgestiegen über Wald und Almen bis zu den kahlen Felsen; doch über diesen Schatten glühten alle Wände und Schroffen in dunkelrothem Feuer, und gleich den erstarrten Flammen einer riesigen Lohe hoben sich die Zacken und Spitzen von dem tiefblauen Himmel ab, über welchen die nahende Nacht schon ihre ersten Schleier spann.
Selten hatte ich dieses Schauspiel in solcher Schönheit genossen, und unverwandt hingen meine Augen an dem herrlichen Bilde, bis plötzlich der Jäger wieder in mir rege wurde, so daß ich fast erschrocken die vergessene Nähe suchte. Doch bei dem raschen Wechsel zwischen Licht und Schatten erschien mir alles schwarz vor den Blicken. Um die Augen zu beruhigen, schloß ich für einige Sekunden die Lider – und als ich sie wieder öffnete, schoß mir jählings das Blut zum Herzen. Mitten auf dem Schlage stand der sehnsüchtig Erwartete. Ich hatte sein Kommen überhört, seinen Auszug übersehen. In stolzer Schönheit stand er da drüben und warf wie spielend mit dem „Aeser“ ein großes Blatt in die Höhe. Trotz der Dämmerung gewahrte ich deutlich das schwankende Geweih und meinte sogar, die weißen Spitzen der dreizackigen Krone zu erkennen. Ein Zittern befiel meine Hände, während ich das Doppelglas an die Augen hob, um meiner Sache noch sicherer zu werden. Das Unerwartete des Anblicks hatte mich um all meine Jägerruhe gebracht. In Unruh und Sorge begann ich die Entfernung zu schätzen. Zweihundert Schritte – wenn nicht mehr! Zu weit – nicht für die Kugel – aber zu weit für einen guten, sicheren Schuß! Mich überkam eine fiebernde Spannung. Wird er näher ziehen – und näher ziehen in den wenigen Minuten, während welcher noch Schußlicht herrscht? Oder wird er aufwärts ziehen gegen den Rücken des Schlages? Da schwellt mir ein erleichternder Seufzer die Brust – ich sehe den Hirsch mit vertrauten Schritten thalwärts trollen – er kommt mir näher – immer näher, wenn auch langsam – und nun verhält er sich äsend vor einem Tannenbusch, und da steht er mir auf etwa hundertvierzig Schritte. Tiefer und tiefer sinkt die Dämmerung, schon verschwindet mir das Geweih – aber noch immer warte ich. Nur zwanzig Schritte noch, denke ich, dann –
Doch während ich so denke, seh’ ich, daß der Hirsch den „Grind“ erhebt, wie überlegend aufwärts windet gegen den Rücken – und richtig – während ich mir diese Bewegung noch zu deuten suche, zieht er bereits äsend der Höhe zu. Nun ist’s aber höchste Zeit! Ein kalter Schauer rinnt mir über die Schultern – kaum aber halt’ ich die Büchse an der Wange, da hab’ ich meine gewohnte Ruhe wieder gefunden, und fest wie Schrauben schließen sich meine Hände um Schaft und Rohr. Ein paar Sekunden brauche ich, um vor einem weiß durch die Dämmerung leuchtenden Steine die richtige Stellung des Visiers zu fassen – dann fahr’ ich langsam auf – nun sitz’ ich mitten drin im
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 380. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_380.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)