Verschiedene: Die Gartenlaube (1888) | |
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Sein Auge suchte den Boden bei den letzten Worten, sonst hätte er die Veränderung gewahren müssen, die plötzlich mit Alice vorging. Sie erbleichte und die eben noch so strahlende Heiterkeit ihrer Züge erlosch, während das Sträußchen von Waldblumen, das sie vorhin gepflückt hatte, ihrer Hand entfiel und auf das Moos niedersank.
„Ist Ihre Abreise so nahe?“ fragte sie leise.
„Gewiß, ich warte nur auf die Ankunft meines Nachfolgers, der voraussichtlich in acht Tagen eintrifft.“
„Und dann gehen Sie – für immer?“
„Ja – für immer!“
Die Frage wie die Antwort hatten einen gleich schweren Klang, dann trat ein Schweigen ein. Alice bückte sich und hob das Sträußchen wieder auf, das sie mechanisch zu ordnen begann. Sie wußte freilich von der Berufung nach Neuenfeld und von der Annahme seitens des Doktors, aber sie hatte geglaubt, er werde wenigstens bis zu ihrer Abreise hierbleiben, und über diese Abreise waren ihre Gedanken nie hinausgegangen. Sie war hier in den Bergen so glücklich gewesen, hatte sich mit ganzer Seele der frohen, sonnigen Gegenwart hingegeben und kaum jemals daran gedacht, daß sie ein Ende nehmen könnte; jetzt wurde sie daran gemahnt, wie nahe dies Ende war.
„Ich kann diesmal ohne Besorgniß gehen,“ hob Benno wieder an. „Der Gesundheitszustand in meinem Bezirk läßt kaum etwas zu wünschen übrig und Sie, gnädiges Fräulein bedürfen meiner ja nicht mehr. Bei der nöthigen Schonung, die Sie sich noch eine Zeit lang auferlegen müssen, glaube ich mich für Ihre dauernde Genesung verbürgen zu können. Ich bin sehr glücklich darüber, daß ich meinem Freunde Wort halten und ihm die Braut gesund und lebensfroh wiedergeben kann.“
„Wenn ihm überhaupt etwas daran liegt!“ sagte Alice leise.
Reinsfeld sah sie betroffen an bei der seltsamen Bemerkung.
„Gnädiges Fräulein –?“
„Glauben Sie denn, daß Wolfgang mich lieb hat? – Ich glaube es nicht!“
Es lag keine Bitterkeit in den Worten, sie klangen nur traurig und ebenso traurig fragend war der Blick, der sich jetzt zu dem jungen Arzte emporhob.
„Sie glauben nicht an Wolfgangs Liebe?“ rief er bestürzt. „Aber weshalb hätte er denn sonst –“ er brach plötzlich ab und verstummte mitten im Satze. Er wußte ja doch am besten, daß die Liebe bei der Wahl seines Freundes keine Rolle gespielt hatte; er erinnerte sich noch so deutlich jener Stunde, wo der junge Oberingenieur sich mit kalter, kühner Berechnung vornahm, die Tochter des allmächtigen Präsidenten zu gewinnen, des spöttischen Achselzuckens, mit dem er den Gedanken an eine Neigung zurückwies – es war eine Spekulation gewesen, weiter nichts.
„Ich will ja keinen Vorwurf gegen Wolfgang aussprechen, gewiß nicht,“ fuhr Alice fort. „Er ist stets so aufmerksam, so rücksichtsvoll und so besorgt um mich, aber ich fühle es doch, wie wenig ich ihm bin, fühle, daß, selbst wenn er bei mir ist, seine Gedanken weit fort sind. Ich habe das seither kaum empfunden und wenn ich es empfand, that es mir nicht wehe. Ich war immer so müde, hatte so gar keine Freude am Leben und kam mir stets wie eine Gefangene vor, in der Krankenhaft. Erst als der schwere Druck zu weichen begann, der mir Geist und Körper lähmte, habe ich sehen und unterscheiden lernen. Wolfgang liebt seinen Beruf, seine Zukunft, sein großes Werk, die Wolkensteiner Brücke, auf das er so stolz ist – mich wird er niemals lieben!“
Benno fand nicht sogleich eine Antwort, er war ebenso erschreckt wie überrascht von diesem Urtheil des jungen Mädchens, das er in diesem Punkte für so gleichgültig gehalten hatte, und das nun mit so unerbittlicher Klarheit die Wahrheit durchschaute.
„Wolf ist überhaupt keine leidenschaftliche Natur,“ sagte er endlich langsam. „Bei ihm überwiegt der Ehrgeiz nun einmal das Gefühlsleben; schon als Knabe war er so und bei dem Manne tritt das noch starrer und schärfer hervor, es ist Charakteranlage.“
Alice schüttelte verneinend das Haupt: „Doktor Gersdorf ist auch eine ruhige, kühle Natur, und wie liebt er Wally! Ernst Waltenberg kannte früher kein anderes Glück als seine schrankenlose Freiheit, und was hat die Liebe aus ihm gemacht! Frau von Lasberg sagt freilich, das eine sei Tändelei, die mit den Flitterwochen zu Ende gehe, und das andere Strohfeuer, das ebenso schnell erlöschen würde, wie es aufflammte; die wahre dauernde Liebe sei überhaupt ein Traumgespinnst, eine thörichte Romanidee, die eine kluge Frau von vornherein aufgeben müsse, wenn sie eine glückliche Ehe führen wolle. Sie mag ja vielleicht recht haben, aber es ist eine so trostlose, so niederschmetternde Weisheit – glauben Sie auch daran, Herr Doktor?“
„Nein!“ sagte Reinsfeld, so fest und nachdrücklich, daß Alice ihn verwundert anblickte, aber sie lächelte trübe.
„Dann sind wir beide Träumer und Thoren, die jene klugen Leute nicht gelten lassen.“
„Und Gott sei Dank, daß wir es sind!“ brach Benno aus. „Lassen Sie es sich doch nicht rauben, mein Fräulein, das Einzige, was im Leben Glück zu geben vermag, was das Leben überhaupt erst der Mühe werth macht. Mir hat Wolf freilich stets prophezeit, daß ich damit ein armer Tropf bleiben werde, nach dem niemand fragt – meinetwegen! Ich bin doch glücklicher als er, mit all seinem Selbstbewußtsein und seinen Erfolgen. Er hat ja keine Freude daran, er steht überall nur die öde, nüchterne Wirklichkeit, ohne Begeisterung, ohne jeden idealen Schimmer. Ich habe ein hartes Leben durchgemacht, bin nach dem Tode meiner Eltern als verwaister Knabe in der Welt herumgestoßen worden, habe als armer Student oft nicht gewußt, wo ich das Brot für den nächsten Tag hernehmen sollte, und habe auch bis jetzt nur eben das Nothwendige gehabt, aber ich tausche doch nicht mit meinem Freunde und seiner glänzenden Zukunft!“
Er ließ sich von seiner Erregung fortreißen und fühlte gar nicht, welche schwere Anklage gegen Wolfgang in seinen Worten lag; aber auch Wolfgangs Braut schien das nicht zu empfinden, denn sie blickte mit leuchtenden Augen zu dem jungen Arzte empor, der, sonst so schlicht und einfach in seinem ganzen Wesen, jetzt in einer förmlichen Begeisterung aufflammte. Er war sonst scheu und verschlossen, wie alle tiefinnerlichen Naturen, jetzt aber, wo die Schranke einmal gebrochen war, kannte er auch keine Zurückhaltung mehr, sondern fuhr beinahe leidenschaftlich fort:
„Wenn wir beide dereinst die Summe unseres Lebens ziehen, dann ist das Glück doch vielleicht auf meiner Seite, dann gäbe Wolfgang vielleicht all seine stolzen Errungenschaften hin für einen einzigen Trunk aus dem Quell, der mir unversiegbar strömt. Wir armen, verhöhnten und verspotteten Idealisten sind doch die einzig Glücklichen in der Welt, denn wir können lieben aus vollem Herzen, können uns begeistern für alles Große und Gute, können Hoffen und vertrauen, trotz aller bitteren Erfahrungen. Und wenn uns alles zusammenstürzt im Leben, dann bleibt uns doch noch das Eine, das nach oben weist, und das trägt uns zu einer Höhe, wohin die anderen nicht folgen können; es fehlen ihnen ja die Flügel und die sind mehr werth als all ihre vielgepriesene Lebensweisheit!“
Alice lauschte schweigend, athemlos dieser Sprache, die sie nie gehört hatte in ihrem Vaterhause und die sie doch verstand mit dem Instinkt eines jungen warmen Herzens, das nach Glück und Liebe verlangt. Und sie wußte nicht einmal, daß der Mann, der so begeistert für den Idealismus, für den Glauben an die Menschen eintrat, eine der herbsten Erinnerungen in Bezug auf Freundesehre und Freundestreue mit sich herumtrug, und daß diese Erinnerung ihrem eigenen Vater galt.
„Sie haben recht!“ rief sie, ihm wie zum Danke beide Hände hinstreckend. „Das ist das höchste, das einzige Glück im Leben und das wollen wir uns nicht rauben lassen!“
„Das einzige?“ wiederholte Benno, während er, fast ohne zu wissen, was er that, ihre Hände ergriff und festhielt. „Nein, mein Fräulein, Ihnen wird doch noch ein anderes Glück beschieden sein! Wolfgang ist trotz alledem eine groß und edel angelegte Natur, lernen Sie sich nur erst gegenseitig verstehen, dann wird und muß er Sie glücklich machen, oder er wäre es nicht werth, Sie zu besitzen. Ich,“ hier wurde ihm doch die Stimme untreu, sie bebte in verhaltenem Schmerze, „ich werde ja öfter von ihm und seiner Ehe hören, wir bleiben in Briefwechsel, und dann – erlauben Sie mir vielleicht auch, dann und wann einen Gruß an Sie einzuflechten.“
Alice antwortete nicht, aber ihre Augen standen voll heißer Thränen; sie war nicht im Stande, diesen ersten tiefen Schmerz ihres Lebens zu verbergen, und bei den letzten Worten barg sie mit einem lauten Aufschluchzen das Gesicht in beide Hände.
Benno sah das mit einem Gefühl berauschenden Glückes und berauschenden Schmerzes. Ein anderer hätte vielleicht alles
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 719. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_719.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)