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Seite:Die Gartenlaube (1888) 722.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

betraten, hatte sich das junge Paar gefaßt, Alice saß auf ihrem früheren Platze und Reinsfeld stand ernst und schweigsam daneben. Wally war natürlich grenzenlos überrascht, ihren Vetter Benno hier zu finden, dessen sie sich sofort bemächtigte. Er mußte beichten, sobald sie allein waren, das stand bei ihr fest, und Alice mußte es gleichfalls, als Schutzgeist hatte man Anspruch auf unbedingtes Vertrauen.

Die kleine Gesellschaft trat gemeinsam den Rückweg an, und dabei mußte Benno unausgesetzt seiner jungen Verwandten Stand halten, die ihn mit Fragen und Erzählungen überschüttete. Er hörte mechanisch zu und gab ebenso mechanisch die geforderten Antworten, während sein Blick an der schlanken, zarten Gestalt hing, die wortlos an Ernas Seite ging; er wußte es ja nicht erst seit heute, daß sie ihm das Theuerste auf der ganzen Welt war.




Der Präsident war zur festgesetzten Zeit angekommen, er mußte bis zur Eröffnung der Bahn den Weg noch über Heilborn nehmen und hatte den Doktor Gersdorf von dort mitgebracht, der seine Frau abholen wollte. Der Chefingenieur war an dem Tage „zufällig“ nach einer sehr entfernten Strecke der Bahn gefahren und konnte seinen Schwiegervater nicht wie sonst begrüßen. Nordheim wußte sich das zu deuten; allerdings rechnete er jetzt auf keine Nachgiebigkeit Wolfgangs mehr, aber es mußte trotz alledem noch zu einer letzten Auseinandersetzung zwischen ihnen kommen.

Wally hatte unmittelbar nach Tische ihren Gatten in den kleinen Waldpark gezogen, der zu der Villa gehörte, um dort ungestört ihr Herz ausschütten zu können, aber sie machte sehr großartige Vorbereitungen dazu und erging sich in so geheimnißvollen Andeutungen und Winken, daß Gersdorf anfing unruhig zu werden.

„Aber, liebes Kind, so sage mir doch endlich, was eigentlich geschehen ist,“ bat er. „Ich habe gar nichts Ungewöhnliches bemerkt bei meiner Ankunft; was hast Du mir denn anzuvertrauen?“

„Ein Geheimniß, Albert,“ versetzte die junge Frau mit großer Feierlichkeit, „ein schweres, tiefes Geheimniß, dessen Bewahrung ich Dir auf die Seele binde. Es haben sich hier ganz unglaubliche Dinge ereignet – hier und in Oberstein.“

„In Oberstein? Ist etwa Benno dabei betheiligt?“

„Ja!“ Frau Doktor Gersdorf machte eine sehr lange Kunstpause, um ihrer Eröffnung den nöthigen Nachdruck zu geben, dann sagte sie in einem hochtragischen Ton:

„Benno – liebt Alice Nordheim!“

Die Nachricht machte leider nicht den gehofften Effekt, der Rechtsanwalt schüttelte nur den Kopf und sagte mit empörender Gleichgültigkeit:

„Der arme Junge! Gut, daß er nach Neuenfeld geht, da wird er sich den Unsinn hoffentlich bald aus dem Sinne schlagen!“

„Das nennst Du Unsinn?“ rief Wally entrüstet. „Und Du meinst, man könne es sich so ohne weiteres aus dem Sinne schlagen? Du hättest es wahrscheinlich gekonnt, wenn ich nicht Deine Frau geworden wäre, Albert, denn Du bist ein herzloses Ungeheuer!“

„Aber ein vortrefflicher Ehemann!“ behauptete Gersdorf, der an diese tragischen Ausdrücke seiner Frau schon gewöhnt war, mit philosophischer Ruhe. „Uebrigens lag die Sache bei mir doch etwas anders. Ich wußte, daß Du mir erreichbar warst trotz mancher Hindernisse, und überdies war ich Deiner Gegenliebe gewiß.“

„Das ist Benno auch, Alice liebt ihn gleichfalls,“ erklärte Wally und hatte die Genugthuung, zu sehen daß ihr Gatte diese zweite Neuigkeit bedeutend ernster nahm, als die erste. Er hörte nachdenklich und schweigsam zu, während sie in ihrer gewohnten lebhaften Weise den ganzem Bericht hervorsprudelte, von dem zusammentreffen im Walde, von ihrem Lauscherposten im Gebüsche und ihren höchst energischen Bemühungen, Klarheit in die Sache zu bringen, wie sie sich ausdrückte.

„Eine Stunde später hatte ich Benno unter vier Augen,“ fuhr sie fort. „Er wollte anfangs nicht beichten, durchaus nicht, aber man soll es einmal versuchen, mir etwas zu verbergen, wenn ich auf der Spur bin! Ich sagte ihm schließlich auf den Kopf zu: ‚Sie sind verliebt, Benno, rettungslos verliebt!‘ Da endlich gab er sein Leugnen auf und antwortete mit einem tiefen Seufzer: ‚Ja – und hoffnungslos!‘ Er war ganz verzweifelt, der Arme, aber ich sprach ihm Muth ein und erklärte, daß ich mich der Sache annehmen und sie in Ordnung bringen werde.“

„Was ihn natürlich sehr getröstet hat!“ warf Gersdorf sarkastisch ein.

„Nein, im Gegentheil, er wollte nichts davon hören. Dieser Benno ist von einer entsetzlichen Gewissenhaftigkeit! Alice sei die Braut seines Freundes, er dürfe nicht einmal an sie denken, wolle sie nie wiedersehen, sondern womöglich schon morgen nach Neuenfeld abreisen und was dergleichen Ueberspanntheiten mehr waren. Er verbot mir sogar, mit Alice zu sprechen – natürlich ging ich sofort zu ihr, sobald er den Rücken gewandt hatte, und brachte sie gleichfalls zum Geständniß. Kurz und gut, die beiden lieben sich, namenlos, grenzenlos, unaussprechlich – da bleibt also nichts anderes übrig, als daß sie sich heirathen!“

„So?“ sagte der Rechtsanwalt, etwas überrascht von dieser Schlußfolgerung. „Du scheinst ganz zu vergessen, daß Alice die Braut des Chefingenieurs ist.“

Frau Wally rümpfte das Näschen; diese Verlobung hatte niemals Gnade vor ihren Augen gefunden, und jetzt machte sie vollends kurzen Prozeß damit.

„Alice hat diesen Wolfgang Elmhorst nie geliebt,“ versicherte sie mit der größten Bestimmtheit. „Sie hat Ja gesagt, weil ihr Vater es wünschte, weil sie damals überhaupt nicht die Energie besaß, Nein zu sagen, und er – nun er wollte eben eine reiche Partie machen.“

„Und eben deshalb wird er nicht geneigt sein, sie fahren zu lassen, das solltest Du doch einsehen.“

„Ich habe Dir ja gesagt, Albert, daß ich mich der Sache anzunehmen beabsichtige!“ erklärte die junge Frau großartig. „Ich werde mit Elmhorst sprechen, werde an seinen Edelmuth appelliren, ihm vorstellen, daß er zurücktreten muß, wenn er nicht zwei Menschen unglücklich machen will. Er wird gerührt, erweicht sein, wird die Liebenden zusammenführen und –“

„Eine echte Romanscene spielen!“ ergänzte Albert. „Nein, das wird er nicht thun! Du kennst den Chefingenieur schlecht, wenn Du ihm eine solche Gefühlsseligkeit zutraust. Er ist am wenigsten der Mann, von einer Verbindung zurückzutreten, die ihm den einstigen Besitz von Millionen verbürgt, und wenn er die Liebe seiner Frau dabei entbehren muß, so wird er sich zu trösten wissen. Und was glaubst Du denn, was Nordheim zu der romantischen Geschichte sagen würde?“

„Der Präsident?“ fragte Wally kleinlaut. Sie hatte bei ihren kühnen Entwürfen, wo sie sich schon als segnenden Schutzgeist sah, der die Hände der beiden Liebenden mit der nöthigen Rührung vereinigte, gar nicht daran gedacht, daß Alice noch einen Vater besaß, der ein entscheidendes Wort in der Sache zu sprechen hatte.

„Ja, Präsident Nordheim, dessen eigentliches Werk diese Verlobung ist, und der schwerlich geneigt sein dürfte, sie aufzuheben und die Hand seiner Tochter einem jungen Landarzte zu bewilligen, der bei all seiner Bravheit und Tüchtigkeit doch äußerlich gar nichts in die Wagschale zu legen hat. Nein Wally, die Sache ist völlig aussichtslos, und Benno hat durchaus recht, wenn er jede Hoffnung aufgiebt. Selbst wenn Alice ihn wirklich liebt – sie hat ihr Jawort einmal gegeben, freiwillig gegeben, und weder der Bräutigam noch der Vater werden sie davon entbinden. Es hilft nichts, sie müssen sich beide fügen.“

Er hätte noch weit mehr Gründe anführen können, ohne seine Frau zu überzeugen. Sie wußte, was ihr eigenes Trotzköpfen ausgerichtet hatte, als es sich um die Vereinigung mit dem Geliebten handelte, und sah durchaus nicht ein, weshalb Alice das nicht gleichfalls durchsetzen sollte. Sie hörte zwar aufmerksam zu, schnitt dann aber jede weitere Einwendung ihres Mannes mit der diktatorischen Erklärung ab:

„Das verstehst Du nicht, Albert! Sie lieben sich – also müssen sie sich heirathen, und das werden sie auch!“

Und gegen eine solche Logik kam Gersdorf mit seinen Gründen allerdings nicht auf. –

(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 722. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_722.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)
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