Verschiedene: Die Gartenlaube (1889) | |
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„Thu’ mir nur den einzigen Gefallen und sage wenigstens nicht ‚Martha‘ – wenn Du wüßtest, wie albern jedem Unparteiischen diese aufgewärmte Mondscheinsonate vorkommt, dann würdest Du sie einmal gründlich kalt werden lassen! Und was die ‚bodenlos‘ artigen, vortrefflich erzogenen Kinder betrifft, so will ich sie doch erst mal sehen; bisher haben wir sie nur auf Minuten erblickt, und wenn unsere stumm knixend hereinkommen, wenn Besuch da ist, und sofort zur andern Thür wieder hinausmarschiren, sind sie auch artig.“
Die Hausfrau verließ etwas stürmisch das Zimmer, um sehr wider Willen die Betten für die erwarteten Gäste herzurichten. Das kleinste fünfjährige Kind beschloß sie in mütterlicher Fürsorge, trotz inneren Grolles, mit Minchen zusammen in ihr eignes Schlafzimmer zu nehmen, die beiden andern wurden untergebracht, wie und wo es eben ging, denn ihre „eignen“ deswegen aus der gewohnten Ordnung zu bringen, fiel der Mutter nicht ein.
Nachdem der passive Widerstand der Dienstmädchen beseitigt war, die darüber murrten, daß ihnen am Waschtage noch ein außergewöhnlicher Zuwachs zu ihren Arbeiten erblühte, hatte die Hausfrau auch den bösen Geist im eigenen Herzen zur Ruhe gesprochen und ging noch einmal in ihres Mannes Arbeitszimmer, wo er, gebeugt von seiner Schuld, am Schreibtisch saß. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Karl!“ sagte sie, schon wieder heiter, „ich bin nicht mehr böse! Es war mir nur im ersten Augenblick etwas unbequem!“
„Das wußt’ ich!“ meinte der Hausherr gerührt, „Du bist ja meine gute Alte! Und ich wette, die kleine Schar wird Dir noch Spaß machen – Du liebst doch Kinder!“
„Eigne!“ erwiderte Frau Julie lakonisch und war im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als sie noch einmal stehen blieb. „Versprich mir nur eins, Karl! – Wenn die Stabsarztskinder ebenso ungezogen sind wie unsere – bloß ebenso! – dann wirst Du mir von morgen an glauben, daß ich Haus und Erziehung so gut verstehe wie Deine dicke Freundin mit dem Rembrandthut!“
Karl lachte. „Das gilt!“ sagte er, „aber Du wirst nicht recht behalten – unsere werden doch noch ungezogener sein!“
Die Hausfrau lächelte vor sich hin und begab sich ins Kinderzimmer, um ihren dreien mitzutheilen, daß sie auf vierundzwanzig Stunden Logirbesuch bekämen. Wie altes Neue, so wirkte auch diese Aussicht auf die Kinderschar wie die Säure, die zu Natron ins Brausepulver geschüttet wird.
Der neunjährige Kurt putzte seine Waffen und suchte alle Bleisoldaten hervor, um sie für den erwarteten Eduard in Parade aufzustellen, Anna zog ihrer Puppe das beste Kleid an, und nur das Kleinste zeigte sich ungastlich, indem es irrthümlich glaubte, es solle sein Bett hergeben, und sich weinend darüber hinwarf.
Der Abend kam und die Gäste mit ihm. Sie wurden in die Kinderstube geführt. Milly, die älteste, führte den Zug, hinter ihr kam der achtjährige Eduard, und in dessen Kittel verbarg sich der kleine Fritz, der sich entsetzlich unbehaglich zu fühlen schien und auf alle freundlichen Fragen und schalkhaften Ermunterungen seitens der Gastgeber nur ein unverständliches Grunzen als Antwort hatte.
Die Kinder des Hauses entwickelten sofort eine wahrhaft glühende Freundschaft für die Gäste und flehten mit gerungenen Händen um die Erlaubniß, mit ihnen in einer Stube, und zwar womöglich „auf der Erde“, schlafen zu dürfen, was für Kinder merkwürdigerweise ein heißerstrebtes Sehnsuchtsziel ist. Die Mutter verwies dieses Verlangen mit dem kurzen, kräftigen Wort „Dummheiten“ für immer in das Reich der unerfüllten Träume, eine Entscheidung, deren Weisheit sich sehr bald zeigte. Die Leidenschaft zwischen Kurt und Eduard schlug nämlich nach etwas über zehn Minuten in ihr Gegentheil um; ein rasender Faustkampf entspann sich, der mit dem unparlamentarischen Ausdruck „Du Schafskopf!“ gekrönt und beschlossen wurde, worauf man die beiden Uebelthäter mit Gewalt auseinander riß.
Anna war inzwischen auch sehr von ihrer neuen Freundin beleidigt worden, die beim Erblicken ihrer Spielsachen immer nur gesagt hatte: „Meine sind viel hübscher! – Ach solch eine Puppe hast Du? Die kann ja nicht mal die Augen zumachen!“ – eine Feststellung, infolge deren Anna sich nun wie um eine der einfachsten Segnungen der Kultur betrogen erschien.
Minchen schlief schon, und so hatte der kleine Fritz keine gleichgestimmte Seele zur Verfügung. Er fiel daher, anderer Zerstreuungen ermangelnd, vom Stuhl, schlug mit dem Kopf auf und schrie entsetzlich, worauf die Mutter den Vorschlag machte, ihn und alle übrigen Kinder ins Bett zu bringen.
Fritz, von namenloser Blödigkeit befallen, wollte sich nicht ausziehen lassen und rief etwa zwanzig Minuten hindurch in langgezogenen Jammertönen: „Johanne, Johanne!“ bis er sich unter der trügerischen Vorspiegelung, daß die ersehnte Johanne kommen würde, sowie er im Bett sei, der Schlummerstätte überweisen ließ.
Als aber die Hausfrau ihn gebettet hatte und verlassen wollte, krallte er sich mit Zetergeschrei in ihr Kleid ein: „Hier ist’s ja finster!“
„Sieh’ doch,“ ermahnte die Gastfreundin, „das kleine Kind schläft ja hier auch im Finstern!“
„Ich schlafe nicht hier – hier ist’s finster!“ kreischte der Junge unbeirrt.
„Du sollst ein Nachtlicht haben! beruhigte die Hausfrau, „leg’ Dich nur jetzt hin!“
Als das milde Licht des Nachtlämpchens durch den Raum strahlte, verstummte Fritz. Frau Julie blieb noch bei ihm sitzen, bis er eingeschlafen war, begab sich dann in die anderen Zimmer, in denen heute ziemlich kein Raum ohne Bett war – „das reine Nachtlager von Granada!“ wie die Hausfrau bitter bei sich bemerkte – und als sie sich überzeugt hatte, daß alles in sanftem Schlummer lag, ging sie zu ihrem Mann, um nach des Tages Last und Hitze noch ein ruhiges Lesestündchen mit ihm zu feiern.
Eben hatte sie das Buch zurecht gelegt, als der unverkennbare, klatschende Tonfall nackter Füßchen auf dem Gange sich hören ließ und die Thür weit aufgerissen wurde. Vor Angst laut schnatternd und weinend stand der kleine Fritz im Nachtgewande da.
„Was hast Du denn?“ frug die Hausfrau etwas verstimmt, „warum schläfst Du nicht?“
„Das kleine Kind brummt so!“ wehklagte Fritz, „ich fürchte mich vor dem kleinen Kinde!“
Die Hausfrau sah ihren Mann vielsagend an, nahm den kleinen Heulbold auf den Arm und trug ihn wieder in die Schlafstube, um ihn über Minchens Ungefährlichkeit zu beruhigen, die etwas geschnarcht hatte.
Eine neue Viertelstunde verging, während deren Frau Julie, von Ungeduld verzehrt, auf dem Bett des furchtwimmernden Gastes saß. Sowie sie den Jungen eingeschlafen glaubte und sich vorsichtig und leise zu erheben begann, schrie er wieder los, und als endlich der Hausherr unwillig herbeieilte und mit etwas barschem Ton dem Ebenbild seiner ersten Liebe gebot, jetzt den Mund zu halten, schlug Fritz in wilder Wuth und Angst mit den Füßen um sich. „Ich will nach Hause – ich will nach Hause – Ihr seid unartig!“ brüllte er; kurz, es bot sich alle Aussicht auf eine recht angenehme Nachtruhe!
„Disciplin!“ sagte Frau Julie nachdrücklich.
Der Hausherr wollte sich so leicht nicht geben. „Ein fünfjähriges Kind!“ meinte er entschuldigend.
„Als Minchen neulich schrie, war sie um drei Jahre jünger!“ gab Julie schnell zurück.
Karl schwieg beschämt.
Das einzige Opiat, welches sich in diesem Fall empfohlen hätte, nämlich eine Tracht Prügel, durfte natürlich ohne schnöde Verletzung des Gastrechts nicht angewendet werden, und so mußte das hofräthliche Ehepaar Geduld üben, bis Fritz sich müde und fast stimmlos geschrieen hatte und in den tiefen, süßen Kinderschlaf versank, in dem auch die greulichsten Unbände sofort wie rosige Engelchen aussehen.
Die Nacht ging übrigens besser hin, als man erwarten durfte. Am andern Morgen erhob sich die Hausfrau zu früher Stunde, um den Kindern in Anbetracht des Waschtages, selbst das Frühstück zu bereiten. Nach dem Grundsatz: „Gefährlich ist’s, den Leu zu wecken“ … umschlich sie vorsichtig Fritzens Lagerstätte und rief die schulpflichtigen Mädchen zum Aufstehen an. Milly öffnete schlaftrunken die Augen mit der Bemerkung: „Meine Mama hat einen viel hübscheren Schlafrock als Du, Tante!“
„Erst könntest Du ‚Guten Morgen‘ sagen!“ schlug die Hausfrau etwas scharf vor.
Milly starrte sie an.
„Ach!“ sagte sie wegwerfend und legte sich auf die andere Seite.
Anna war indeß tugendhaft aufgestanden und ermahnte den Gast, artig zu sein.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_095.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)