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Seite:Die Gartenlaube (1889) 096.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

So bin ich nie!“ bemerkte sie weise. Diese Worte hatten einen heftigen Streit zur Folge, in dem Anna bald den kürzern zog und nur den zweifelhaften Vortheil errang, ihren Wortschatz um ein paar recht kräftige Ausdrücke vermehrt zu sehen.

Julie beklagte nur im Stillen, daß ihr Mann nicht anwesend sei, um diese neue Beweisführung mit anzuhören. Sie verließ die Stube, nachdem sie etwas energisch Ruhe geboten hatte, und wollte die Jungen wecken. Diese aber hatten bereits in glückseliger Kampflust die Betten verlassen und schlugen sich jubelnd die Kopfkissen um die Ohren, „aus Spaß!“ wie Kurt der Mutter entgegenschrie, um jeder etwaigen Einmischung erfolgreich zu begegnen. Zum Frühstück erschien auch der Vater, und seine gebietende Persönlichkeit endete einen wilden Kampf, der sich eben zwischen Eduard und Milly um ein bestimmtes, von beiden ersehntes Brötchen entspann.

„Bei uns giebt es früh Kaffee!“ bemerkte Milly mit einem ausdrucksvollen Blick auf ihre Tasse Milch.

„Bei uns nicht!“ sagte der Hofrath, von der Zeitung aufblickend.

„Aber Du trinkst ja welchen, Onkel!“ fuhr Milly fort.

Die Hausfrau goß den Gästen schweigend Kaffee ein und sah ihren Mann an, der sich die größte Zeitungsbeilage vor das erröthende Antlitz hielt.

„Einfach und streng!“ sagte sie halblaut.

„Die Semmel ist ja nicht geschmiert!“ rief Eduard zornig, „ich esse keine trockene Semmel!“

„Es ist hier doch keine Butter, Eduard!“ moralisirte Milly mit einem Anflug von Verachtung gegen die mager besetzte hofräthliche Tafel, „es giebt nicht bei allen Leuten Butter zum Frühstück.“

Die Hausfrau überhörte diesen zarten Wink und belustigte sich heimlich über die erstaunten, offenen Münder ihrer beiden eigenen, die immer erwartungsvoller von den Gästen nach dem Vater sahen, ob es nicht bald „einschlagen“ werde.

Als die Schuljugend abgetrollt war, wurden die beiden Kleinsten besorgt. Fritz hatte sein Heimweh ausgeschlafen und hing sich mit einer ebenso rührenden wie unbequemen Liebe an die Hausfrau, die er bei jedem Schritte mit den Fragen begleitete: „Was machst Du denn da, Tante? was ist denn das, Tante?“

Die Tante bezwang ihre Ungeduld, um im Tone eines Fabelbuches zur Unterhaltung und Belehrung der Jugend dem Knaben ihre Beschäftigungen auseinanderzusetzen, die heute des Waschtages wegen recht mannigfaltiger Natur waren. Um elf Uhr kamen die Schulkinder heim, die leider, des Mittwochs wegen, für den Rest des Tages einer mehr ihnen selbst angenehmen als der Hausfrau erwünschten Freiheit genossen.

„Tante, wir haben Hunger!“ erklärte Eduard schon in der Thür.

„Im Eßzimmer steht Frühstück für Euch,“ bedeutete die Hausfrau.

„Da stehn ja bloß Butterschnitten!“ murrte Eduard, „meine Mama legt uns Wurst und Käse aufs Brot!“

Frau Julie sah ihren Gatten nur lächelnd an.

Sofort ging nun die furchtbare Frage: „Was sollen wir jetzt machen?“ wie ein böser Geist bei den Kindern um. Jedes Spiel verlor nach fünf Minuten seinen Reiz, und der einzige, der Ausdauer entwickelte, war Eduard, dem ein Pfennig aus den Händen gerollt war und der seit einer halben Stunde weinend unter allen Möbeln umher kroch, um den verlornen Schatz wieder zu finden.

Da der Entschwundene ein „neues“ blitzend blankes Geldstück gewesen, erwies sich jeder angebotene Ersatz als unzulänglich, und die Hausfrau verhinderte auch weitere dahingehende Bestrebungen mit den Worten: „Laß ihn doch, da hat er etwas vor!“

Das „Glocke und Hammer“-Spiel, welches inzwischen hervorgesucht worden war, verfing bei den Fremden auch nicht. „Bei uns giebt es immer etwas zum Gewinnen,“ meinte Milly, „um nichts mögen wir nicht spielen!“

Die Hausfrau schwebte in ernstlichster Gefahr, an zurückgetretenen Ohrfeigen zu erkranken, und stimmte bei jeder neuen Ungezogenheit der Gäste immer innerlich an: „Ach, wenn Du wärst mein eigen!“ . . .

Die Stunde des Mittagessens brachte eine gewisse Erlösung insofern, als doch immerhin die Anwesenheit des Vaters etwas hemmend wirkte. Allerdings erklärten die Gäste mit liebenswürdiger Offenheit: „Erbsensuppe essen wir nicht!“ und verlangten Bier oder Wein – indem sie nebenbei erstaunt fragten: „Ach, Ihr trinkt Wasser?!“ – aber immerhin ging der Anfang leidlich vorüber.

Als die süße Speise kam, erwies sie sich zur Beschämung der Hausfrau als nicht ganz ausreichend, und die Mutter selbst verzichtete freiwillig auf ihren Antheil, während Kurt vom Vater durch ein Gebot, desgleichen zu thun, in der Selbstbeherrschung geübt wurde. Er gab auch keinen Ton von sich, aber eine männliche Zähre stahl sich über seine Wange, die von Eduard mit ausgestrecktem Zeigefinger und dem Ruf: „Der weint!“ roh ans Licht der Oeffentlichkeit gezerrt wurde.

Kurt, der auf der Höhe menschlichen Ertragens angelangt war, als er die Speise an sich vorübergehen sah, stürzte, die Heiligkeit des Gastrechtes außer Augen setzend, mit geballten Fäusten auf den Verräther seiner tiefsten Seelenregungen und prügelte ihn, trotz allgemeiner entsetzter Rufe von Vater, Mutter und Geschwistern, weidlich durch, so daß beide junge Herren schließlich als quiekender, zappelnder Knäuel bis an die Thür rollten und durch ein energisches „Hinaus!“ des Vaters gemeinsam Landes verwiesen wurden.

Vor der Thür tobte der Kampf noch ein Weilchen weiter, dann hörte man Eduards wutherstickte Stimme: „Ich bleibe nicht bei Euch!“ und während Kurt dick verweint und zerzaust wieder eintraf, fiel draußen die Flurthür krachend ins Schloß.

„Wo ist Eduard?“ riefen die Anwesenden Kurt entgegen.

„Fortgerannt!“ erwiderte er lakonisch.

„Der Junge wird doch nicht weit laufen?“ meinte die Mutter besorgt.

„Laß ihn nur,“ beruhigte der Vater, „er geht schlimmstenfalls nach Hause!“

„Da ist niemand!“ bemerkte Milly, die schon aus Mitgefühl mit dem Bruder die Lippe bedenklich verschob, „es ist alles zugeschlossen!“

„Ich werde hingehen und ihn wiederholen,“ sagte der Vater ärgerlich, der jede Unterbrechung oder Verzögerung seiner Mittagsruhe aufs tiefste verabscheute, stand vom Tische auf und verließ mit einem kurzen und gereizten: „Gesegnete Mahlzeit!“ das Zimmer.

„Siehst Du!“ wehklagte indeß Milly, zu Kurt gewendet, „Du hast ihn so gehauen, unartiger Junge, Du bist schuld, wenn er sich verläuft! Wenn das meine Mama gewußt hätte,“ setzte sie altklug hinzu, „dann hätte sie uns ganz gewiß nicht hergeschickt.“

„Schade, daß sie es nicht gewußt hat!“ dachte Frau Julie innerlich und hob die Tafel auf.

Inzwischen kam ihr Mann von der nur wenige Häuser entfernten Wohnung des Stabsarzts zurück.

„Da ist der Junge nicht!“ sagte er etwas bekümmert, „aber er wird schon wieder kommen; solch ein achtjähriger Schlingel geht nicht verloren! Komme jetzt, Julie, wir wollen Mittagsruhe halten.“

„Nein, Karl!“ sagte Julie mit Entschiedenheit, „das kann ich nicht! Die Kinder sind mir anvertraut, und wenn eines derselben fortgelaufen ist, so muß es sich erst wieder finden, eher kann ich unmöglich Ruhe haben!“

Es begann nun eine angstvolle Treibjagd auf den verschollenen Eduard. Sein Name wurde in allen Tönen und Tonarten „zum Skandal“ die Straße herabgerufen, alle Nachbarhäuser wurden durchforscht, selbst die Schule, obwohl Eduard diese gern mied, mußte sich eine Haussuchung gefallen lassen – der Junge war weg!

Frau Julien brach nun wirklich der Angstschweiß aus. Ihr Sohn hatte den Entlaufenen geprügelt und schreckliche Bilder tauchten vor ihrer Seele auf. Die Ueberanstrengung des ganzen Tages, verbunden mit dieser Sorge, hatte den höchst ungewöhnlichen Erfolg, daß die Hausfrau plötzlich in heißen Thränen zerfloß und dadurch so deprimirend auf ihre Umgebung wirkte, daß die großen Kinder auch anfingen zu weinen – Kurt am geräuschvollsten, da er sich als Urheber des Unheils ansehen mußte. – Wenn man bedenkt, daß Eduards natürliche Eigenthümerin während dieser Zeit seelensfroh mit ihrem Gatten und mehreren guten Bekannten eine Vergnügungspartie machte, so wird man zugeben, daß die Aufgaben in diesem Falle etwas ungerecht vertheilt schienen.

Die Dienstmädchen, welche stets einen gewissen Wonnegrusel fühlen, sobald ein Unheil in der Luft schwebt, umkreisten wie drohende, krächzende Raben das Haupt der armen Hausfrau und erzählten Anekdoten aus ihrer Vergangenheit, wo Jungen, die sich verlaufen hatten, auf entsetzliche Weise zugerichtet oder gar nicht wieder gekommen waren.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_096.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)
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