verschiedene: Die Gartenlaube (1889) | |
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Der Hausherr beruhigte seine Nerven durch eine Tracht Prügel, die er an Kurt verabfolgte, der, ohnehin tief gebeugt, sich nun in eine wahre Dachtraufe verwandelte und vor Schluchzen nicht mehr hörte und sah.
Die beiden einzigen, die an dem allgemeinen Jammer nicht theilnahmen, waren Fritz und Minchen, die in unheimlicher Artigkeit still zusammen am Boden saßen, bis eine düstere Ahnung die Mutter zum Hinsehen trieb, wo sich denn ergab, daß beide dem Sport huldigten, sich Kurts „türkische Bohnen“ langsam und sorgfältig in Nasen und Ohren zu stecken, ein Spiel, welches nie aufhört, seinen unerklärlichen Zauber auf kleine Kinder auszuüben.
Inzwischen begann der Abend hereinzudämmern, und die Lage wurde wirklich kritisch. Kurt verschaffte der betrübten und verwirrten Familie noch eine neue Aufregung, indem er aus der Ecke, wo er seinen Kummer nach Kinderart rasch ausgeweint hatte, plötzlich hocherfreut rief: „Da ist er ja!“ und bei der allgemeinen Sorge für den Augenblick jedem eine Bergeslast vom Herzen wälzte.
„Wo denn?“ schrie alles durcheinander.
„Hier!“ sagte Kurt strahlend, „Eduards blanker Pfennig!“
Die Enttäuschung wirkte wirklich zerschmetternd auf alle Anwesenden, da jeder sich im Augenblick von der allerdings unwahrscheinlichen Annahme hatte blenden lassen, daß der vermißte Eduard, seinem Pfennig gleich, unter einen Schrank gekollert sein könnte.
Der Vater, in welchem jetzt auch die Angst um den anvertrauten Eduard mehr und mehr zu steigen anfing, begab sich inzwischen auf die Polizei, um die obrigkeitlichen Mächte zur Herbeischaffung des Verlorenen aufzubieten. Jeder kleine Junge, dem er unterwegs begegnete, wurde hoffnungsvoll von ihm fixirt, und kein Anblick der Welt hätte ihm in diesem Augenblick erfreulicher sein können als Eduards Straßenjungengesicht. Aber „nicht in dem Wald, nicht auf der Flur fand sich von Eduard eine Spur“, und der Vater kehrte, gebrochen an Leib und Seele, von Angst und Aerger zerwühlt, nach Hause zurück.
Hier waren inzwischen, als unheimliches Symptom der hereinbrechenden Dunkelheit, die Lampen gebracht worden, und die Mutter machte den Vorschlag, zu Abend zu essen und zu Bett zu gehen, der von den Kindern erfreut angenommen wurde, mit Ausnahme von Milly, deren Schwesterherz blutete, und die unter krampfhaftem Schluchzen erklärte, „die ganze Nacht aufbleiben zu wollen!“
Die Hausfrau ging, Kurt an der Hand, der im Verdachte stand, den abendlichen Reinigungsprozeß manchmal etwas oberflächlich zu behandeln, nach dem Schlafzimmer des Jungen, welches neben dem für die kleinen Gäste bestimmten Raum lag.
O Wunder – aus diesem Logirzimmer ertönten sanfte, gleichmäßige Athemzüge! Frau Julie stürzte, die Lampe in der Hand, hinein und riß die Decke von dem einen Bett – da lag der gesuchte Eduard – wie ein dickes, unordentliches Kleiderbündel, eine Faust noch zum Angriff oder zur Vertheidigung geballt, und schlief, als wenn er nie mehr etwas anderes zu thun gedächte. Die Mutter traute zuerst ihren Augen nicht, rüttelte dann aber etwas unsanft den schmerzlich Vermißten, der sich langsam ermunterte, verwundert umhersah und sich dann allmählich aufrichtete.
Kurts lautes Geschrei der Verwunderung und Freude lockte nun alle Mitglieder der Familie herbei, und der Vater, der eben von der Polizei kam, war über die friedliche Lösung des Knotens von den widerstreitendsten Empfindungen zerrissen, da er einerseits sehr froh war, daß der Schlingel da – andererseits empört, daß er – der Vater – so unnütz abgejagt worden sei.
Auf scharfes und strenges Inquiriren nebst angedrohten Ohrfeigen beichtete dann Eduard, daß er in der Absicht, seine Gastfreunde zu erschrecken – die ihm ja auch vortrefflich gelungen war! – die Flurthür aufgemacht und von innen wieder zugeschlagen habe, um den Glauben zu erwecken, er habe das Weite gesucht. Dann hatte er sich heulend einfach in sein Bett versteckt, war eingeschlafen und hatte den durch ihn entfachten Sturm der Außenwelt an sich vorüber brausen lassen, ohne auch nur etwas davon zu hören.
Ob bei dieser Wendung des Gespräches nicht doch ein gewaltsamer Eingriff seitens des entrüsteten Hausherrn erfolgt wäre, muß ewig dahingestellt bleiben, denn in dem Augenblick, wo sich die väterliche Hand – entschieden nicht zum Segnen – erhob, tönte an der Thür die Stimme der Köchin, die halb erfreut, halb enttäuscht über den zahmen Verlauf der Sache die Meldung machte: „Eine Empfehlung von der Frau Stabsarzt, und sie läßt um die Kinder bitten – die Herrschaften wären eben zurückgekommen!“
Mit nicht allzu schmeichelhafter, freudiger Eile wurde diese Bitte gewährt, die Kinder des Hauses, welche sich schon lange genug „besucht“ fanden, schleppten mit ungewöhnlichem Diensteifer Mäntel und Hüte der kleinen Gäste herbei. Fritz stürzte glückselig in die Arme seiner Johanne, die ihn nach Hause tragen mußte, was die Hausfrau „recht unnöthig“ fand, und Eduard und Milly waren auch schnell zum Fortgehen gerüstet.
Fritz gab den allgemeinen Gefühlen beim Abschied erschöpfenden Ausdruck, indem er mit biederer Offenheit sagte: „Bei Euch war’s nicht hübsch – wir kommen nie mehr zu Euch!“ was der Hausfrau ein stilles Dankgebet entlockte.
Als die wilde Schar abgezogen war, Eduard durch den Wiederbesitz des Pfennigs gänzlich in sein geistiges Gleichgewicht gebracht und die „eignen Kinder“ wieder ruhig schlafend in ihren Bettchen lagen, sah die Hausfrau ihrem Mann lachend ins Gesicht. „Nun Karl? tauschest Du mit den Kindern Deiner Jugendliebe?“
„Nein!“ sagte der Hausherr aus tiefster Seele, „wenn ich mir denke, daß das hätten meine sein können, da wird mir schwarz vor Augen!“
Das freundschaftliche Verhältniß zwischen den beiden Familien erlitt von diesem Tage an eine segensreiche Abkühlung, die Stabsarztskinder hatten schauerliche Berichte von den Mißhandlungen und Entbehrungen geliefert, die sie bei Hofraths hatten erdulden müssen, und die Hofräthin auf einige spitze Reden Frau Marthas über diesen Punkt entsprechend scharf erwidert – so war die Sache nicht wieder ins alte Geleis zu bringen.
Zum Glück hatte der vierundzwanzigstündige Besitz der Stabsarztskinder den Hofrath derartig ernüchtert, daß er kein Verlangen trug, die alten Beziehungen wieder in das zarte Stadium zu bringen, und seine Frau konnte sich von dem Tage an mit Befriedigung sagen, daß die letzte Liebe in ihrem Fall doch dauerhafter war – als die erste!
Blätter und Blüthen.
Franz Xaver Gabelsberger. Unsere Zeit, die so wenig Zeit hat, sie hat sich auch die Mittel geschaffen, Zeit zu gewinnen. Tagereisen unserer Väter legt sie im dampfbeflügelten Bahnzug in wenig Stunden zurück, mit der Geschwindigkeit des Blitzes trägt sie im elektrischen Draht die Worte von einem Ende der Erde zum andern, ja selbst den geringen Zeitverlust, der mit dem Schreiben, Aufgeben, Ausfertigen und Bestellen eines Telegramms verbunden ist, erspart sie noch und redet von Mund zu Mund durch den Fernsprecher, das Telephon. Und wie umständlich, wie zeitraubend das Entwerfen eines Briefes, eines Berichts in der landesüblichen Kurrentschrift! Wir machen es kürzer, wir stenographiren! Die Stenographie ist ein rechtes Kind der Gegenwart, entsprungen aus den Bedürfnissen des parlamentarischen Systems, wie es seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in unseren deutschen Staatsverfassungen allmählich zur Geltung kam; genährt von dem Geist der Eile und Hast, des Strebens nach möglichster Ersparniß an Zeit und Raum, an geistiger und körperlicher Kraft, hat sich die Stenographie zu einer der bedeutsamsten Erscheinungen unseres Jahrhunderts gestaltet. Der Mann, den man unbeschadet der Rechte früherer Geschwindschreiber, von dem alten Tiro an, der Ciceros „Quousque tandem“ mit wenigen Haken schrieb, als den Erfinder der Stenographie bezeichnen kann, Franz Xaver Gabelsberger, ist gerade vor hundert Jahren, am 9. Februar 1789, zu München geboren.
Es war um das Jahr 1817. Da sitzt der etwas kränkliche bayerische Kanzlist in seinen Freistunden beim Schein der Lampe und macht sich ein System von Schriftzeichen zurecht, bequem, leichtfließend, um in den Sitzungen des bayerischen Ministeriums den Vorträgen der Redner mit dem Nachschreiben besser folgen zu können.
Die Schaffung einer bayerischen Ständeversammlung giebt ihm die erste Gelegenheit, seine Erfindung auch öffentlich zu erproben; welch ein Siegeszug von da bis heute, wo in 50 deutschen und außerdeutschen Parlamenten die Reden der Volksvertreter ausschließlich oder doch theilweise nach seinem System festgehalten werden, wo über 500 Gabelsberger Stenographenvereine mit rund 15 000 Mitgliedern bestehen und Hunderttausende außerhalb derselben sich der nützlichen Schriftzeichen bedienen, ja, wo sogar eine förmliche Akademie, das k. sächsische stenographische Institut in Dresden, sich die Pflege der Gabelsbergerschen Stenographie zur Aufgabe gemacht hat! Man kann den Geist der Zeit, von welchem die Stenographie ein äußeres Anzeichen ist, beklagen, man kann sich zurücksehnen nach den
verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1889, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_098.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)