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Seite:Die Gartenlaube (1889) 127.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Hamburg einhändigte. Hastig öffnete ich es und sah nach der Unterschrift; da stand mit festen, deutlichen Zügen der Name „Edmund Walter!“

Wie von einem Alp befreit, athmete ich auf; er lebt, der leichtsinnige Schlingel, dachte ich und las nun getrost die vier engbeschriebenen Seiten. Doch bat ich dem Manne sofort ab: er hatte in der That eine schwere, lebensgefährliche Krankheit zu überstehen gehabt, verdankte seine Rettung nur der aufopfernden Pflege einer Dame, Tochter eines Deutsch-Amerikaners, welche er auf der Reise kennen gelernt, und war vierzehn Tage nach seiner Genesung als Gatte der schönen Samariterin zur Nachkur über den Ocean in deren Heimath gezogen. Solchen Erlebnissen gegenüber war das Verblassen früherer Ereignisse in des Künstlers Gedächtniß um so begreiflicher, als die Erinnerung an das Madonnenbild dem Schöpfer, wie derselbe diesen Mittheilungen beifügte, auf seinem jetzigen künstlerischen Standpunkte keineswegs Befriedigung gewährte. Das im liebenswürdigsten Tone gehaltene Schreiben schloß mit freundlichen Grüßen an das Ehepaar Chiotti wie mit der Versicherung, daß er das Glück, dessen er sich an der Seite seiner jungen Gattin erfreue, ohne Bedenken mit einem nochmaligen Schiffbruche gleich jenem auf der Adria erkaufen würde.

Ohne einen Augenblick zu warten, eilte ich mit dem Briefe in der Tasche zum Strande hinab, wo Chiotti, wie ich wußte, sicher zu treffen war. Seine Barke hatte bei der nächtlichen Brandung eine kleine Havarie erlitten und war zur Ausbesserung trocken gelegt worden; doch kümmerte sich der Eigenthümer nicht weiter darum, sondern lag vom Morgen bis zum Abend am Ufer in dumpfem Brüten, kaum die nothdürftigste Nahrung genießend und jede Anrede mit einem kurzen „Ja“ oder „Nein“ und jenem unheimlichen Lächeln beantwortend, das die Lippen Geistesgestörter umspielt.

So fand ich ihn auch diesmal im Ufergrase ausgestreckt, Gesicht, Brust und Arme von der Abendsonne in leuchtende Bronze getaucht, dem Anscheine nach eine schöne harmlose Staffage der Strandidylle, die mir so unvergeßlich geworden. Angiolina war, von schwerer Sorge um den Gatten getrieben, herabgekommen und hatte den kleinen Mondo auf den Rücken des Vaters gesetzt, um diesen aus der geistigen Erstarrung zu lösen. Das Jauchzen des kleinen Krauskopfes mischte sich mit dem Frohlocken der abseits badenden Kinder wie mit dem lustigen Gelächter der „Boccia“ Spielenden zu einem einzigen Jubelkonzerte, ohne jedoch den stummen Mann auch nur für einen Augenblick aus seinem Tiefsinn zu wecken. Angiolinas Auge, das eben noch mit Entzücken die reizenden Bewegungen des strampelnden Kindes bewacht, füllte sich mit Thränen; es war der letzte Versuch: wenn Mondos Lachen wirkungslos blieb, dann gab es ihrer Meinung nach kein Heilmittel mehr für den Erkrankten.

In diesem Augenblicke aber wurde die Scene plötzlich verändert. Dem Schreckensruf: „Ein Hai, ein Hai!“, von einem der badenden Knaben ausgestoßen, folgte ein dumpfes Aufklatschen in den Wellen und ein Schrei, wie ihn nur Mutterangst aus der menschlichen Kehle zu pressen vermag. Ein kleines, auf schmaler Landzunge spielendes Mädchen war, durch den Ruf erschreckt, in das Meer gestürzt und vor den Augen der Mutter in den brandenden Wogen verschwunden.

Starres Entsetzen lähmte augenblicklich jede Thätigkeit. Die Erscheinung des gefährlichen Seeungeheuers ist in jenen Gewässern ziemlich selten und deshalb um so mehr gefürchtet.

Was aber dem jubelnden Mondo nicht gelungen, das hatte der Angstschrei einer Mutter bewirkt. Chiotti wandte sich wie elektrisirt nach der Unglücksstätte und flog, nachdem er mit dem scharfen Seemannsauge die Sachlage überschaut, gleich einem vom Bogen geschnellten Pfeile dahin, um wenige Sekunden nach dem Falle des Kindes an derselben Stelle in den Wellen zu verschwinden.

Die Spanne Zeit bis zu dessen Wiedererscheinen dehnte sich zur Ewigkeit; doch endlich tauchte er auf, von hundertstimmigem Freudenschrei begrüßt, denn sein Arm umschlang das gerettete Kind!

Den folgenden Ausbruch mütterlicher Wonne und Dankbarkeit hörte ich nur mit halbem Ohr, so laut er auch ertönte; denn meine ganze Aufmerksamkeit war auf Chiotti gerichtet, wie er ans Ufer stieg, prächtig anzusehen in der leichten, an dem muskulösen Gliederbau klebenden Kleidung. Nein, das war nicht mehr derselbe Mann, der noch vor wenigen Minuten an sich und dem Himmel verzweifelnd dagelegen! Hoch aufgerichtet schritt er durch den Sand, die breite, braune Brust dehnend, als athmete er heute zum ersten Male die wonnige Luft dieses Himmelsstriches, mit strahlenden Augen um sich blickend, als sähen diese heute zum ersten Male die blühenden Gefilde dieses gesegneten Gestades! Und jetzt traf sein Blick das Wonnigste und Blühendste dieser neugewonnenen Welt, Angiolina, welche, mit Mondo in den Armen, sprachlos, zitternd vor Erregung, Angst und Freude ihm entgegentrat. Da erstarb auch ihm das Wort auf den Lippen; der Sturm in seinem Innern, die lange zurückgehaltene Gattenliebe suchte und fand einen andern Ausdruck, dessen Gebrauch allerdings nicht jedem Menschenkinde vergönnt ist. Der starke Mann hob mit den eisernen Armen Weib und Kind wie im Triumphe empor und rannte dann mit dem kostbaren Schatze so eilig davon, als könne derselbe nicht rasch genug den Blicken der neidischen Welt entzogen werden!

Ich wollte Chiotti in seinem wiedergefundenen Glück nicht stören und suchte ihn erst in später Abendstunde auf. Als ich das Fischerhaus betrat, lag noch in Chiottis Zügen ein Abglanz der Freude über die gelungene Rettung als ein „Gnadenzeichen der versöhnten Madonna“; aber das wehmüthige Zucken des Mundes verrieth hinlänglich, daß das Bewußtsein einer schweren, durch keine Sühne ungeschehen zu machenden That nicht geschwunden war.

Wäre ich darüber noch im Unklaren gewesen, die Wirkung des Schreibens, als ich dasselbe nach bestem Vermögen verdolmetschte, hätte jeden Zweifel benommen. Mit gefalteten Händen horchte Angiolina, mit schweren, wie Schluchzen tönenden Athemzügen Chiotti der freudigen Botschaft; dann preßte dieser meine Hand, als wäre sie eine Citrone, das junge Weib aber bot mir in der Herzensfreude die blühenden Lippen zum Kusse. Mein Blick traf Chiotti, doch dieser sah lächelnd zu, ein genesener freudestrahlender Mann!

Noch manchen Abend verbrachte ich in seiner Behausung, namentlich wenn Sturm und Regen den Aufenthalt im Freien verleideten und der Aufruhr der Elemente das Verlangen nach dem stillen Frieden eines häuslichen Herdes, dem Anblicke eines vollen Menschenglückes verdoppelte.

Ein volles Menschenglück? – Ja, es giebt ein solches, was auch Pessimisten in Palästen und Hütten dagegen sagen. Auch möchte ich es keinem derselben rathen, meinem zweifach geheilten Othello gegenüber daran zu zweifeln. Und das mag es wohl sein, was mir dessen markige Bronzegestalt im Rahmen der blauen stillen Meeresbucht stets in Erinnerung bringt, wenn die ersterbende Natur das Herz mit bangen Ahnungen befällt; was mir Sonnenschein und Sommerluft in die Stube zaubert, wenn die Dohlen des Winters Nahen künden und der Sturm vergilbte Blätter an die Fenster weht.




Bilder aus Spanien.[1]

Toledo.
Von Schmidt-Weißenfels.

In der südlichen Hälfte Spaniens wähnt der reisende Fremde sich weit, weit weg aus Europa und aus der Gegenwart entrückt. Er sieht die todte Wüste unter afrikanischer Sonnenpracht und inmitten derselben die Oasen mit paradiesischer Fruchtbarkeit, uralte Städte darin, die kaum einen Zug von moderner europäischer Kultur aufweisen, dagegen aber großartige vereinsamte oder zerfallende Spuren mittelalterlichen Glanzes, Spuren eines Zeitalters, das für die Spanier die Blüthe ihrer Geschichte bedeutet, voll eigenartiger Volksentwicklung, sittlicher Thatkraft und geistiger Regsamkeit. Die Gegenwart ist noch nicht bis dahin gedrungen. Die grandiosen Bauwerke, die sich da als Zeugen der Vergangenheit erhalten haben, drücken erhabene Elegien aus. Man muß


  1. Dieser Artikel schließt sich an die im Jahrgange 1884 erschienenen „Bilder aus Spanien“ an.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_127.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)
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