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Seite:Die Gartenlaube (1889) 138.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)


„Herr Gott, Kind, Du bist wahrhaftig krank!“

„Ja, Tante!“ Und sie sah auf einmal seltsam stier in dem Schlafzimmer umher. „Wo bin ich denn?“ flüsterte sie und sank auf den Teppich.

Das gewandte Mädchen hob sie empor und brachte sie zu Bett, während Tante Melitta lamentirend in den unteren Stock lief, um Frau Becker zu benachrichtigen, daß Lore ohnmächtig geworden sei. Der Arzt saß nach einer halben Stunde am Lager der jungen Frau und darum standen Schwiegermutter, Tante und Mutter.

„Ich komme morgen ganz früh wieder,“ sagte der Doktor, nachdem er Eisumschläge auf den Kopf verordnet, „ich kann heute noch nicht entscheiden, ob diese Ohnmacht der Vorbote einer Krankheit gewesen ist. Jedenfalls muß jemand bei der Patientin wachen. Die Alteration, meine Damen, über den Tod des Vaters und an solchem Tage – hoffen wir das Beste!“

Frau von Tollen wachte an dem prächtigen Himmelbette, in dem die junge Frau regungslos lag, die ganze Nacht hindurch.

Tante Melitta, die am andern Morgen kam, fand ihre Schwägerin eingeschlafen, Lore noch immer mit wachen starren Augen. Sie fragte flüsternd nach dem Ergehen, erhielt aber keine Antwort. Sie weckte die Schwägerin und eröffnete ihr im Nebenzimmer, Lore sei entschieden sehr krank, man müsse an ihren Mann telegraphiren. Frau Becker, die ebenfalls eintrat, meinte zögernd, die Depesche werde ihn nicht mehr erreichen.

„Aber man kann es doch versuchen!“ drängte das alte Fräulein, und Frau Becker willigte ein, es zu thun. Sie lief hinunter in ihre Räume, das Taschentuch in der geballten Faust.

„Dieses Geschöpf! Diese Ellen!“ murmelte sie, aber sie schrieb kein Wort an dem Schreibtisch, vor dem sie stand, sie zog aus dessen eben von ihr erschlossenem Schränkchen ein Päckchen zusammengebundener Papiere und nahm ein Bild heraus, eine Photographie, das Porträt einer Frau mit einem Kinde, eng an einander geschmiegt, unverkennbar Mutter und Sohn, so lieblich wie eine Blume neben der Knospe. Das Bildchen hatte wohl früher in einem Rahmen gesessen, man sah es noch an den Rändern, die verletzt waren. Sie betrachtete die Rückseite. „Lieber Papa,“ stand da mit den Krakelfüßen eines Kindes, dem die Hand geführt wurde, „ich gratulire Dir zum Geburtstage und bitte Dich, daß Du meine Mama und mich lieb behalten willst.“

Es war da ein Tropfen hineingefallen, der sicher aus den Augen der Frau stammte, die das Kind beim Schreiben auf dem Schoß gehalten hatte. Frau Becker fühlte nicht das Rührende dieser einfachen Worte, eine dunkle Zornesröthe überflammte ihr Gesicht. – War denn diese Person wahnsinnig mit ihren Ansprüchen? – Gott im Himmel, das hätte eine nette Geschichte werden können, wenn die hier hereinschneite, in diese kleine Stadt, wo jeder wußte, was der andere zu Mittag aß!

Die starke, hastig athmende Frau in dem schwarz- und weißgestreiften Morgenkleide, in das sie dem verstorbenen von Tollen zu Ehren – man konnte ja nicht anders, er gehörte nun mal zur Familie – schwarze Spitzenkrausen geheftet hatte, nahm das Bild und riß es mitten durch. – „So!“ sagte sie und warf es in den Papierkorb. Sie sah dabei so gehässig aus, als bedaure sie nur, mit den Kopien nicht auch die Originale vernichten zu können „Eine Lappalie! Eine Liaison wie alle jungen Männer sie haben! Nur seine Gutmüthigkeit war schuld, daß er – –. Mein Himmel, das kostet wieder einen schönen Groschen, um diesen Mund zu stopfen!“ Und sie schüttelte dabei das rothe ärgerliche Gesicht. „Natürlich!“ rief sie mit ihrer lauten Stimme, die immer kreischender wurde, je liebenswürdiger sie klingen sollte, der Tante Melitta zu, die eben wieder eintrat, um zu fragen, ob die Depesche fort sei. „Ich habe sofort telegraphirt, liebstes Fräulein von Tollen – – ach Gott, wenn es nur nichts Schlimmes wird! Adalbert überlebte diesen Verlust nicht. Sie glauben nicht, Tollenchen, was für ein tiefes Gemüth mein Sohn hat. Er legte sich mit ins Grab, wenn sie stürbe –“

„Aber sprechen Sie doch nicht so etwas Gräßliches!“ wehrte das kleine Fräulein, und sie kauerte sich in einen Lehnstuhl am flammenden Kamin, trocknete sich die Augen und holte aus ihrer Tasche eine Unmasse schwarzer Läppchen und Fleckchen hervor. Sie nähte Trauerkleider für eine Puppenfamilie, und wie sie so dasaß und mit ihren verweinten Augen und dem vergrämten Gesichte, um das die Seitenlöckchen zitterten, sich mit ihrem kindischen Kram beschäftigte und dazwischen aus Herzensgrund seufzte, da sah sie so unendlich komisch aus, daß Käthe, die eben herein kam, um zu fragen, wie es der Schwester gehe, Mühe hatte, nicht zu lächeln.

„Sehr schlecht!“ riefen beide Damen wie aus einem Munde.

„Ach, Lore fiebert immer so leicht,“ sagte Käthe, sah aber doch ein wenig blaß aus ob dieser Nachricht.

„Fieber und Fieber ist ein Unterschied!“ erklärte Tante Melitta.

„Der Sanitätsrath machte ein so ernstes Gesicht,“ sekundirte Frau Becker und begann im Zimmer auf und ab zu wandern; sie war in gereizter Stimmung.

„Ich will hinaufgehen,“ sagte Käthe und verabschiedete sich. Sie kam durch die Wohnzimmer unhörbaren Schrittes bis in die Schlafstube und trat an das untere Ende des Bettes.

Die Kranke hatte jetzt die Augen geschlossen und lag völlig bewußtlos. Sie sah aus wie eine Sterbende, so verzerrt war das Gesicht in Schmerz und Qual. Langsam öffnete sie endlich die Augen und das erschrockene Gesicht Käthes erblickend sagte sie: „Ich bin nicht krank, mir thut nichts weh; nur müde bin ich, entsetzlich müde.“

Die Mutter, die eben wieder hereintrat mit einer Erfrischung für Lore, schickte Käthe fort.

„Geh’ nur heim,“ flüsterte sie, „sieh’, daß Rudolf etwas zu essen vorfindet und hilf ihm den Koffer packen, ich kann hier nicht fort.“ Und sie suchte in ihrem Kleide nach dem Portemonnaie und reichte der Tochter zwei Zehnmarkstücke. „Gieb ihm das, mehr habe ich nicht übrig, und grüße ihn!“




Doktor Schönberg saß in seinem Zimmer am Schreibtische und arbeitete. Es war noch dasselbe altmodische Möbel, das schon in seines Vaters Studirstube in der Oetzer Pfarre gestanden hatte, ein sogenanntes Cylinderbureau aus Mahagoniholz. Drüben an der Wand hing das Bild des Pastorhauses, uralt, mit moosbewachsenem Schindeldach und nach altsächsischer Bauart die zwei gekreuzten Pferdeköpfe am Giebel tragend, lugte es unter hohen knorrigen Eichen hervor, wie ein Idyll von Voß.

Er sah von dem Hefte, das er eben korrigirte, auf. Es lag ihm drückend schwer im Sinn, selbst bei der Arbeit spürte er die dumpfe Gegenwart des Leides, das ihn betroffen. Von dem Aufsatze über Cornelius Nepos flog sein Blick zu dem Bilde empor. Auf jener Schwelle da hatte er als Kind gespielt, und Sonntag abends waren die Mädchen des Dorfes unter den Eichen in langer Reihe, Arm in Arm, hin und her gewandert, die alten Liebeslieder singend, die sie von Eltern und Ureltern ererbt. Er hatte einmal Lore von der Poesie erzählt, die über dem kleinen weltfernen Pfarrhause lag, die in den Eichen rauschte, in seinem schattigen Garten lauschte und um die alten Hünengräber wob auf der „Wische“ hinter dem Dorfe. Ihre Augen hatten dabei so innig in die seinen gesehen.

„Ich führe Dich einmal hin in das kleine Dorf!“ hatte er stillschweigend gelobt, denn damals war noch kein Wort von Liebe zwischen ihnen gesprochen worden; aber sie mochte es wohl aus seinen Mienen gelesen haben, denn sie sagte:

„Ich möchte es sehen das alte Haus, in dem Sie als Kind gespielt haben. Es bleibt immer etwas hängen am Menschen von seiner Heimath.“

Er warf die Feder heftig auf das Schreibzeng, daß ein rother Tintentropfen wie ein Blutfleck auf dem sauber geschriebenen Hefte schimmerte, stand auf und ging vom Schreibtisch weg zum Ofen hinüber, in dem eben die letzte Gluth erlosch, und da strich er sich über die Stirn. Es war ja doch nun einmal so, sie hatte ihn verlassen! – – Wenn er beschreiben sollte, wie ihm die Wochen vergangen seit dem Tage, da er aus M. zurückkehrte und die Mutter ihn mit einem so merkwürdig fragenden Gesicht empfing, wie sie endlich mit zornbebender Stimme hervorbrachte, daß Lore von Tollen die Braut eines andern sei, wie er oben auf seinem Schreibtisch den Brief fand, der ihn in M. vergeblich gesucht hatte und schon seit zwei Tagen seiner hier harrte, und daneben die elegante Verlobungsanzeige – er wäre es nicht im stande gewesen.

Er hatte sich nicht entschließen können, Lores Brief zu öffnen; ungelesen war er in den Ofen gewandert. Was hatte sie ihm auch noch zu sagen? Womit sich zu entschuldigen? – Er wollte es nicht wissen; da lag die gedruckte Bestätigung ihres Treubruches, alles andere war überflüssig. Ja freilich, man mochte ihr zugeredet haben, sie hatte wohl auch gekämpft, aber – sie unterlag doch.

(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_138.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)
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