Verschiedene: Die Gartenlaube (1889) | |
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In den Wolken.
Nordöstlich von Görz, ungefähr zwölfhundert Meter über der Thalsohle, auf welcher diese anmuthige Stadt aufgebaut ist, ragt eine mächtige Hochfläche. Man nennt sie den Ternovaner Wald. Dieselbe zieht sich in der Richtung nach Idria hin. Mehr als neuntausend Hektare sind mit hochstämmigem Wald bedeckt, welcher an Ueppigkeit seinesgleichen kaum hat in den Gebieten Deutschlands und des österreichischen Kaiserreiches. Es ist ein Stück Nordland, welches sich gerade über den warmen Gefilden des Südens erhebt.
Der Jäger, der das Reh in seinem Dickicht jagt, sieht dort, wo sich dasselbe lichtet, auf das blaue Meer und seine weißen Segel hinab. Der Morgenstrahl macht ihm sogar in seiner Waldwohnung die ferne Stadt[WS 1] der Lagunen, das märchenhafte Venedig, sichtbar.
In diesem weiten Walde führen verschiedene Förster, lauter Deutsche, ein einsames Leben. Sie sind weltabgeschieden wie wenige ihrer Standesgenossen. Görz ist der nächste Ort, an welchem sie das erreichen, was man in Bezug auf die menschliche Gesellschaft Welt zu nennen pflegt. Dorthin aber müssen sie, abgesehen von der Entfernung in der Luftlinie, mehr als dreitausend Fuß hinab, und, was noch mehr in Betracht kommt, auf dem Rückwege wieder herauf steigen. Und gerade im Winter, in dessen stürmischer und trauriger Zeit das Bedürfniß nach dem Verkehr mit Menschen sich am meisten fühlbar macht, ist ein solcher Gang überaus beschwerlich. Die Wege sind mit Schnee und Eisplatten belegt, so daß ohne die Zuhilfenahme von Fußeisen, welche sich der Wanderer an den Schuhen befestigt, die glatten Hänge nicht überwunden werden können. Dazu kommt noch der heftige erstarrende Sturmwind, die Bora, die sich häufig genug einstellt. Wehe demjenigen, dessen sie sich bemächtigt!
Die Förster, welche in weit von einander entfernten Häusern wohnen, haben im Volksmunde den Namen „die Waldteufel“ erhalten. Es ist damit nicht gesagt, daß sie für schlimme Menschen gehalten werden, sondern die Leute wollen damit auf ihr einsames Leben im Hochwalde hindeuten.
In einem Forsthause, welches unweit der Mittagsspitze steht, die von den Slaven Poldanovec genannt wird, wohnte einer jener Förster, welcher schon viele Jahre in dieser Waldeinsamkeit zugebracht hatte. Man nannte ihn den Eisenhans. Und gewiß verdiente er diesen Namen. Es war in der That seiner Zeit ein eiserner Mann gewesen. So wetterhart, wie er, war keiner. Keine Bora war heftig genug, um ihn von irgend einem Dienstgange abzuhalten. Er war der Schrecken der Wilddiebe und anderer Forstfrevler.
Gleichwohl bekommen wir ihn im Anfange unserer Geschichte in einer Stellung zu sehen, welche nicht mit den beschriebenen Eigenschaften zusammen zu stimmen scheint.
Wir sehen ihn nämlich, wie er im pfadlosen Wald, auf dessen schneeüberwehtem Boden nicht eine einzige Spur einen Weg andeutet, auf allen Vieren sich durch den Schnee hindurchschleicht. Thut er dies, um ein Wild zu überlisten? Thut er es, um irgend einem Uebelthäter beizukommen?
Im Dickicht der schneebelasteten Bäume wäre solches Schleichen in beiden Fällen nicht nothwendig gewesen.
Wenn uns das Auge keinen Aufschluß darüber geben kann, warum der Eisenhans eine für einen waldgewaltigen Förster so sonderbare Stellung einnimmt, so würde uns das Gehör darüber sofort unterrichten.
Es geht ein Stöhnen und Dröhnen durch den Wald, als ob ein Wassersturz gleich dem Niagara in einer Entfernung von wenigen Schritten von uns zur Tiefe ginge. Aus allen Dickichten dringen klagende, heulende Stimmen hervor.
Die Bora ist über den Ternovaner Wald gekommen, und wenn der Eisenhans sich aufrichten wollte, würde sie ihn in die eisig verglasten Schneehaufen hineinwerfen. Kein Mensch vermöchte sich auf den Füßen zu erhalten, auch der Eisenhans nicht.
Die Mühsal eines solchen Sichfortbewegens verhinderte den Eisenhans nicht, von Zeit zu Zeit ingrimmige Verwünschungen auszustoßen. Er richtete diese gegen sich selbst. Warum war er auch so unvorsichtig gewesen und hatte sich beim Fortgehen nicht mit Fußeisen versehen? War es doch Winter und konnte die Bora mit einem Schlag über das Land kommen, wie es auch thatsächlich geschah.
Indessen bewährte es sich auch hier wieder, daß schlimme Erlebnisse mitunter ihr Gutes haben.
Wäre der Förster aufrecht gegangen, so wäre er nicht mit der Nase auf eine von Schneestaub überwehte Schlinge gestoßen. Sicherlich wäre ihm diese entgangen.
In dem zugezogenen Theile derselben steckte ein Hase, der zu einem Klumpen zusammengefroren war.
Dieser Anblick verblüffte den Eisenhans so, daß er darüber die Bora und das ganze Ungemach vergaß.
„Hab ich dich endlich einmal!“ sagte er laut vor sich hin. „Diesmal hast du dich wohl selbst gefangen, Meßner!“
Mit einem Blick sah er das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige vor sich.
Der Meßner des Dörfleins, welchen er längst im Verdacht der Wilddieberei und schon hundert Mal mit dem Tode bedroht hatte, mußte diese Schlinge gelegt haben. Es konnte nicht fehlen, daß derselbe in allernächster Zeit hierher kommen und nachschauen würde. Der Förster hatte nun einen bestimmten Anhalt, wo er den Frevler auf frischer That packen zu können hoffen konnte. Besonders günstig war der Umstand, daß der Meßner nicht durch die Spuren des Försters im Schnee gewarnt zu werden vermochte. Denn bei dem Sturm, welcher herrschte und voraussichtlich anhielt, mußte das fortwährend aufgewühlte Schneepulver bald jede Fußstapfe bis zur Unkenntlichkeit verwehen.
Da der Eisenhans sein Revier kannte wie seine eigene Tasche, so bot es ihm keine Schwierigkeit, sich die Stelle genau zu merken. Sie lag überdies kaum zweihundert Schritte vom Forsthaus ab und war nur durch einen Bühel, auf welchem man des Schutzes wegen, welchen die Bäume bieten, ein kleines Stück Urwald stehen gelassen hatte, von demselben getrennt.
Vorläufig aber mußte der Förster seinen seltsamen Gang auf allen Vieren fortsetzen. Erst, nachdem er eine Gruppe von ungeheuren Tannen erreicht hatte, die sich bis zum Fuße jenes Bühels fortsetzte, gelang es ihm, sich wieder aufzurichten.
Er vermochte einige Schritte weiter zu gehen, indem er sich an dem festen Geäste hielt, unter welchem zudem sehr wenig Schnee lag.
Plötzlich horchte er überrascht auf. Mitten durch das Schwirren und Pfeifen der Bora vernahm er deutlich Glockenhall. War es denn möglich, daß man schon zur Vesper läutete? Er verglich seine Uhr.
Wenn diese richtig ging – und er hatte allen Grund es anzunehmen – so fehlten noch zwei Stunden bis zur Zeit des Vesperläutens. Oder wagte es der nichtswürdige Meßner, in Abwesenheit des Geistlichen heute nach seinem Gutdünken vor der Zeit zu läuten, um bis zum Einbruch der Dämmerung eine längere Frist zum Absuchen seiner Schlingen vor sich zu haben? Von den armseligen Leuten, die unter den schwarzen Strohdächern in ihren Hütten wohnten, hatte ohnehin kaum einer eine Uhr, das Gebahren des Meßners zu überwachen. Mit einem Male aber schwieg das Geläute und klang so sonderbar aus, wie es der Eisenhans nach seiner Erinnerung kaum jemals gehört hatte.
Jetzt besann er sich, was da vorging. Es war allerdings ein seltener Fall. Nicht der Meßner hatte die Glocke in Bewegung gesetzt, sondern die Bora, welche heute so wüthete, wie schon seit vielen Jahren nicht mehr.
Die Tannen, unter welchen er sich befand, standen so dicht nebeneinander und breiteten über den Boden ein so mächtiges Schirmdach aus, daß nur wenige Schneeflecke auf dem Boden zu sehen waren.
Da ereignete sich etwas, wodurch der erfrorene Hase, die Schlinge und der Meßner augenblicklich in Vergessenheit geriethen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Sadt
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_142.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)