Verschiedene: Die Gartenlaube (1889) | |
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No. 12. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Lore von Tollen. |
Nachdruck verboten. Alle Rechte vorbehalten. | |
(Fortsetzung.) | Roman von W. Heimburg. |
Der General kam nach einigen Augenblicken an das bezeichnete
Haus und öffnete die lautklingelnde Thür. Darauf trat aus
der Küche eine kleine Frauengestalt, die, der Kälte wegen, ein schwarzwollenes
Tuch um den Kopf trug und sich an einer großen blauen
Leinenschürze eilig die nassen Hände trocknete. Der alte Herr hatte
Mühe, in dieser ärmlichen Erscheinung seine Schwägerin zu erkennen.
Aber sie war schon auf ihn zugeeilt. Die Freude, den Bruder ihres Mannes wiederzusehen, der in ihrem Leben, ausgenommen in der letzten Angelegenheit mit Rudolf, immer die Rolle eines hilfreichen Engels gespielt hatte, färbte ihr bleiches Gesicht. Er kam sicher auch diesmal, Trost und Rath zu bringen. „Onkel! Du?“ rief sie und ergriff seine Hand.
„Meine arme Marie!“ antwortete er mild und erwiderte warm den Händedruck. „Ich wäre so gern früher gekommen, um hinter Leos Sarge mitzugehen; aber ich saß da drüben in Cairo. Ja, ja, mein alter guter Leo –“
Sie traten in die kleine finstere Eckstube, und während Frau von Tollen schluchzend auf einen Stuhl sank, zog er seinen Pelz aus und blinzelte mit den Augen und räusperte sich, um seine Rührung zu verbergen.
„Na, nun fasse Dich, Marie, wir wollen jetzt mal von Deinen Verhältnissen sprechen, darum bin ich hier. Sag, wie es steht, und ob ich Dir irgendwie helfen kann! Erzähle nur los, alte Seele. Was habt Ihr denn noch zum Leben, und wie ist’s mit dem Schlingel, dem Rudolf, geworden? Wie hast Du Dir die Zukunft gedacht?“
Es war trostlos genug, was er nun in stockenden Worten zu hören bekam, so schlimm hatte er sich die Lage der Witwe nicht vorgestellt. Er saß an dem Tische, trommelte mit den Fingern der einen Hand auf der Platte desselben und zwirbelte mit der andern den weißen Schnurrbart. Ein „Hm! hm!“ entfuhr ihm zuweilen, das war alles.
„Na, nur nicht gleich verzagt!“ sagte er endlich, als Frau von Tollen bereits eine ganze Weile schwieg, „da muß man halt ordentlich überlegen, was geschehen kann. Ich werde mal mit dem Aeltesten sprechen und – apropos, die Lore, unsere reiche
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_181.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2020)