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Seite:Die Gartenlaube (1889) 190.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Dichtung beibehalten. Ob dieselbe sich auch litterarhistorisch rechtfertigen läßt, ist freilich eine andere Frage. Aber es ist immerhin eine Frage, über die sich gerade in diesen Tagen wohl reden läßt. Hat doch die Stimmung, aus der Ernst Schulzes Gedicht hervorgegangen ist, nahezu zwei Menschenalter deutschen Lebens so beherrscht, daß sie, diese Stimmung nämlich, als der getreueste Ausdruck deutscher Liebesempfindung in Glück und Leid angesehen werden darf.

Hundert Jahre sind am 22. März 1889 vergangen seit der Geburt des Dichters, zweiundsiebzig Jahre seit seinem Tode. Er hat also im ganzen nur achtundzwanzig Jahre gelebt. Er wurde in Celle geboren, lebte in Göttingen und starb in Celle. Er hat also auch nicht in verschiedenen Kreisen gelebt. Demgemäß ist sein dichterisches Schaffen eng umgrenzt. Drei romantische Dichtungen „Cäcilie“, „Psyche“, „Die bezauberte Rose“, daneben eine geringe Anzahl lyrischer Gedichte füllen dasselbe mehr als reichlich aus. Und doch bezeichnet sein Name einen Markstein in unserer Litteraturgeschichte, an dem kein Wanderer vorüber gehen darf, ohne den Manen des Dichters seine Huldigung dargebracht zu haben.

Von Hause aus ist Ernst Schulze zu einer sogenannten guten Lebenskarriere gleichsam vorherbestimmt; er ist ein kräftiger, geweckter, begabter und beliebter Knabe, der im Elternhause eine gute Erziehung und auf dem Gymnasium zu Celle eine tüchtige Fortbildung erhält. Sein Vater, der Bürgermeister von Celle, liebt den Knaben ganz besonders herzlich, und auch die Stiefmutter hat ihn früh ins Herz geschlossen. Er selbst bezeichnet sich zwar als einen unbedeutenden, linkischen, scheuen Burschen; aber man weiß ja, was es mit solchen Geständnissen auf sich hat. Daß er sich als vierzehnjähriger Knabe in seine Tante verliebte, wollen wir ihm dagegen gern glauben, da er uns mittheilt, daß diese Tante ein sehr geistreiches und gebildetes Mädchen war. So erwachte schon in jungen Tagen, durch verschiedene Freundschaftsbeziehungen, durch kleine Reisen und durch Lesen gefördert, eine poetische Welt in dem Knaben, über deren „ordnungslose Gebilde“ er aber noch nicht Herr zu werden vermochte.

Aber mit dem Tage, da er die Landesuniversität Göttingen bezieht, beginnt sein Leben eine neue und später eine wenig günstige Wendung zu nehmen. Zunächst fällt schon die Unsicherheit ins Gewicht, die Ernst Schulze über sein Berufsstudium zeigt und die ihn schließlich zur Theologie führt. Erst die Bekanntschaft mit dem Aesthetiker Professor Bouterwek erschließt ihm eine neue Gedankenwelt. Bouterwek ward und blieb ihm bis zum Tode ein väterlicher Freund und Berather. Er führt ihn in die Gesellschaft gebildeter Frauen, er liest und beurtheilt seine Gedichte, er ist es wohl auch, der seinen Uebergang von der Theologie zur Philosophie vermittelt. Wieland war damals Schulzes Ideal- und Lieblingsdichter, der ihn völlig bezaubert hat und dem er durchaus nachstreben will. Das erzählende Gedicht „Psyche“, welches in jene Lebenszeit fällt, verräth in der That sowohl dem Geiste wie der Form nach den übermächtigen Einfluß Wielands und des „französischen Hellenismus“ auf den werdenden Poeten, der hier sein erstes dichterisches Werk gab.

Von solchen Bestrebungen und Vorbildern wurde Schulze natürlich zum Studium der Antike geführt, dem er sich aber nicht etwa bloß mit dichterischer Freiheit, sondern mit grammatischer Genauigkeit ergab. Die Philologie ward bald sein Hauptstudium, und Horaz, Virgil, Aristophanes und Lucian wurden seine Lieblingsschriftsteller. Daneben war er heiter, mit seinem bescheidenen Lose zufrieden, fröhlich im Kreise zechender Genossen, ein lustiger Bruder Studio, der sich gern ein Stückchen Rinde vom Lebensbaum abschnitt und manchen harmlosen Liebeshandel anknüpfte. Vielleicht waren die ersten Göttinger Jahre die glücklichsten seines Lebens; jedenfalls war es die einzige Zeit, auf die des Dichters eigenes Bekenntniß in seinen „Elegien“ paßt:

„Wahrlich, ich habe gelebt! Nicht reut mich die fröhliche Wildheit,
     Fest an die feurige Brust drückt’ ich das blühende Sein,
Küßte die scheidende Lust, und der nahenden lacht’ ich entgegen,
     Und zur geliebtesten Braut ward die Minute mir stets.“

In diese Zeit fällt Schulzes Harzreise und seine Liebe zu jenem Brockenmädchen, dem einige seiner schönsten Elegien und Gedichte gewidmet sind. Aus seinen Briefen und Tagebuchblättern in jenem Lebens- und Liebesfrühling (im April 1810) strömt uns förmlich ein frischer Harzgeruch entgegen, und über der ganzen Liebesepisode ruht etwas wie der unsagbar anheimelnde Duft der Landschaft selbst. Wie Heine, so unternimmt auch Ernst Schulze seine Harzreise, weil ihm der trockene Gelehrtenstolz der Georgia Augusta, die Studentenhändel und das Philistertreiben zuwider sind; auch er hat sich im romantischen Mondschein umhergetummelt und Zauberschlösser der Phantasie aufgebaut; auch sein Herz sehnt sich nun aus dem schönen Nebel der Dichtung in die heitere Wirklichkeit zurück. Da begegnet ihm Adelheid, des Försters Pflegetöchterlein, und macht einen tiefen Eindruck auf seine empfängliche Seele. Es ist kein flüchtiger Liebeshandel und mehr als eine sentimentale Liebesepisode, was ihn mit dem anmuthigen Harzkinde verbindet. Er gedenkt ihrer oft und gern, er feiert sie in vertrauten Briefen an seinen Freund v. Bergmann und in schwungvollen Gedichten, ja er gesteht selbst zu, daß er durch dieses Mädchen besser geworden sei.

Mit dem Geständniß, daß diese „letzte romantische und sentimentale Episode in seinem Leben“ ihm gewiß „ewig theuer“ bleiben werde, und mit der Einbildung einer gesunden Lebensphilosophie trennt sich Ernst Schulze von seinen Erinnerungen, um wieder nach Göttingen und zur Arbeit zurückzukehren. Vielerlei Pläne beschäftigen seinen regen Geist: er will eine griechische Litteraturgeschichte schreiben, er arbeitet an einem romantischen Epos, zugleich aber auch an seiner Doktordissertation. Daneben verstrickt er sich in einen neuen Liebeshandel mit einer verheiratheten adeligen Dame, wie er selbst ehrlich genug eingesteht: hauptsächlich aus Eitelkeit; und Ueberdruß, innere Aufregung, Unbefriedigung mit dem eigenen Thun und dem Lauf der Welt wachsen immer mehr, um schließlich eine dämonische Lebensstimmung hervorzubringen, in welcher der junge Poet zwischen weicher Sentimentalität und wildem Sarkasmus hin- und herschwankt.

In dieser überaus gefährlichen, ja für einen Dichter geradezu verhängnißvollen Lebensstimmung, in der er alle Frauen für kokett, selbstgefällig und selbstsüchtig halten zu dürfen glaubt, in der er erklärt, daß es unter dem weiblichen Geschlecht doch mehr Karikaturen gebe als unter dem männlichen und daß es ihm leichter sein würde, den Chimborasso zum Frühstück zu verzehren, als eine Satire auf alle Untugenden des weiblichen Geschlechts zu machen, in dieser Stimmung lernt Ernst Schulze ein Mädchen kennen, das bald von entscheidendem Einfluß auf sein Leben werden und seinen Anschauungen über die Würde der Frauen eine ernste, aber tiefschmerzliche Richtigstellung angedeihen lassen sollte. Cäcilie Tychsen, so lautete ihr Name, wurde das Verhängniß seines Lebens. Sie war die Tochter eines Göttinger Professors, und der junge Dichter lernte sie in einer jener langweiligen Theegesellschaften kennen, die er in seinen Tagebüchern so unnachahmlich geschildert hat. Der erste Eindruck war kein sonderlich günstiger. Cäcilie, die viele Verehrer hatte, deren Ruf aber untadelig war, zu erobern, meinte er zuerst, würde ihm nicht wenig Ehre eintragen. Ueberkühn spielte der junge Poet mit dem Feuer, das ihn nur zu bald verzehren sollte. Das leichte, vielleicht sogar frivole Spiel verwandelte sich rasch in tiefen, schmerzlichen Ernst und der Flüchtling wurde in den Banden einer heißen Liebesgluth gefesselt, die ihm bis dahin völlig fremd gewesen.

Cäcilie gehörte, nach der Schilderung des Biographen Schulzes, zu den seltenen, hochbegabten Frauennaturen, in denen die Psyche so übermächtig ist, daß sie das Körperliche noch vor dessen Vollreife in seiner zartesten Jugendblüthe aufzehrt. Reizend vor vielen ihres Geschlechts, war sie empfänglich für alles Schöne, begeistert für alles Gute und erfüllt von Wissen und Kunstsinn. Sie war glühende Patriotin, die die deutsche Schmach jener Jahre tief empfand, und eine echt poetische Natur, in der Dichtung und Musik sich zum harmonischen Bunde vereinigt hatten. Was Wunder, daß sie den für weibliche Einflüsse überaus empfänglichen Dichter in den Heerbann ihrer Verehrer zog!

Hat aber Cäcilie seine Liebe auch erwidert? Es scheint dies nicht der Fall gewesen zu sein. Die Zeitgenossen sprechen nur von dem „freundlichen Wohlwollen“, das sie seiner schwärmerischen Neigung entgegenbrachte. Indeß scheint sich ja Ernst Schulze thatsächlich mit diesem Wohlwollen begnügt zu haben. Er selbst gesteht schon nach kurzer Zeit, daß er dieser Liebe unendlich viel Dank schuldig sei und daß sie eine vollständige Umwandlung seines Wesens bewirkt habe. Seine religiöse und seine patriotische Gesinnung verdankte er dieser Liebe, die Vertiefung seines Charakters und die Erhebung seines Geistes zugleich. Seine Tagebuchblätter aus dem Jahre 1812 gewähren einen tiefen Einblick ist das Werden und Wachsen dieser Neigung bis zu ihrem Höhepunkte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_190.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)
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