Verschiedene: Die Gartenlaube (1890) | |
|
dem Vater. Und dann spricht er wie irr und deklamiert lange Gedichte vom Menschengeist, der seine letzten Fesseln abwerfen müsse.“
„So nehmt Ihr ihn also einfach als einen Irren?“
„O nein, durchaus nicht; er ist nicht irr, im Gegentheil, er ist grundgescheit und kann alles und weiß alles. Er ist nur ein Fanatiker und thut das Aeußerste, sonst aber ist er wie ein Kind. Er ist der Friedliebendste von uns allen und er ist rührend, wenn er Ruth sieht. Dann verklärt sich sein Gesicht und ich glaube, wenn sie’s befühle, so ging er nach Neu-Caledonien und Numea zurück. Von da floh er nämlich und kam bis hierher. Aber was sprech’ ich nur von Monsieur L’Hermite! Du wirst ihn kennen lernen, und unter allen Umständen ist er kein Gesprächsstoff für Deinen Einzug an dieser Stelle. Denn es ist Blut an seinen Händen, ungesühntes Blut.“
Lehnert brannte der Boden unter den Füßen, als Toby so sprach, und es war ihm, als ob er fliehen müsse. Toby aber, völlig ahnungslos, welche Wirkung seine harmlos hingesprochenen Worte hervorgerufen hatten, trat in diesem Augenblick an ein mit allerhand Matten und Kissen belegtes, zugleich als Sofa dienendes Bambusgestell und sagte, während er auf zwei darüber aufgehängte Bildchen in schwarzem Rahmen hinwies: „Das ist der Remter in Marienburg . . . Und das hier ist Kloster Oliva. Kennst Du sie? Sie sind das einzige Preußische, was wir noch von alter Zeit her im Hause haben.“
Es war nicht ohne Verlegenheit, daß Lehnert Namen und Dinge nennen hörte, die jenseit seiner Kenntniß lagen, es blieb ihm aber erspart, diese Nichtkenntniß gestehen zu müssen, denn Toby brach ab, ohne auf Antwort zu warten, und verließ das Zimmer. Als er schon draußen war, wandt’ er sich noch einmal zurück und sagte:, „Ich hoffe, daß nichts fehlt. Wenn aber etwas fehlen sollte, hier ist der Knopf, auf den Du drücken mußt; es ist eine Drahtleitung, die wir Monsieur L’Hermite verdanken. Monsieur L’Hermite ist nämlich ein Erfindergenie; nun, Du wirst ihn ja kennen lernen. Und nun Gott befohlen!“
Jetzt war Lehnert allein, ein Augenblick, nach dem er sich gesehnt hatte. Benommen von der Fülle von Eindrücken, die diese wenigen Stunden ihm gebracht hatten, ging er auf das mit Matten und Kissen überdeckte Lager zu, streckte sich nieder und schloß die Augen. Er wollte nicht sehen, um die Bilder seiner Seele desto deutlicher vor Augen zu haben. Da war der Alte, lächelnd, vornehm überlegen. Dann trat Monsieur L’Hermite vor ihn hin, das Käppi zurückgeschoben und das Gesicht über den Schraubstock gebeugt. Und dann wieder sah er Ruths halb noch kindliche Gestalt und ein Gefühl unendlicher Sehnsucht ergriff ihn. Wonach? Nach einer ihm verloren gegangenen Welt?
Er stand auf und hielt in dem Zimmer Umschau. Schlicht und sauber war alles. Alle Stühle von Bambus, sogar der Schaukelstuhl am Fenster, und am Pfeiler daneben zwei Stiche: Washington und General Grant. Sonst nur noch ein Bett und ein Tisch und eine Bibel darauf. Und er nahm die Bibel, und der Gedanke kam ihm, er wollte sein Schicksal darin lesen und ob er den Frieden finden würde. Und nun schlug er auf: es war ein Psalm, und er las: „Zähle meine Flucht, fasse meine Thränen, ohne Zweifel, Du zählst sie. Was können mir die Menschen thun? Ich hoffe, auf Dich, Du hast meine Seele vom Tode gerettet.“ Er war tief ergriffen und Thränen entstürzten seinem Auge. Dann schritt er auf das Fenster zu, öffnete beide Flügel und sah hinaus. Greifbar nah’, so wenigstens erschien es ihm, zog sich das bis auf den Kamm hinauf mit Tannen und allen Arten von Nadelholz bestandene Gebirge, dazwischen aber schlängelte sich ein Weg hernieder und wo der Weg ins Thal mündete, stand ein weißes Haus, zerfallen und ohne Dach, vordem ein Fort, das Fort O’Brien. Darüber lag der blaue Himmel und ein heller Wolkenstreifen zog den Kamm entlang, den an dieser Stelle nur ein einziges mächtiges Felsenstück überragte.
„Das ist der Mittagsstein.“
Und dann sah er wieder hinaus und suchte hinauf, ob er nicht noch andere Punkte zur Vergleichung und Erinnerung fände. Zuletzt aber ruhte sein Blick immer wieder bei dem weißen Haus unten am Abhang aus und eine Stimme rief ihm zu, daß sich seine Geschicke dort erfüllen würden.
Aber die Stimme sagte nicht, ob zu Glück oder Unglück.
Anderthalb Wochen waren um und Lehnert hatte sich eingelebt. Er sah kein Regieren und einfach ein Geist der Ordnung und Liebe sorgte dafür, daß alles nach Art eines Uhrwerks ging. Der Tag begann mit einer Andacht, die der Alte klug genug war, wenigstens als Regel knapp und kurz einzurichten, weil er sich sagte, daß Ermüdung der Tod aller Erbauung sei. Gewöhnlich las er einen Psalm oder etwas aus der Patriarchengeschichte, wenn er nicht vorzog, an mehr oder weniger wichtige Tagesereignisse mit Spruch und Betrachtung anzuknüpfen. War dann unmittelbar nach der Andacht das Frühstück eingenommen, so gab er persönlich die Weisungen für den Tag, was er, gestützt auf eine genaue Kenntniß seines Grund und Bodens und andererseits auch mit Hilfe der ihm am Abend vorher durch Toby oder Kaulbars oder Lehnert erstatteten Berichte, sehr wohl konnte. Begegnungen um die Mittagsstunde fielen aus, weil ein guter Imbiß entweder gleich mitgenommen oder auf die Felder hinaus geschickt wurde, was denn zur Folge hatte, daß man sich erst um sieben Uhr abends zum zweiten Male zu gemeinschaftlicher Mahlzeit versammelte, woran sich dann der Abendsegen und eine kurze Plauderei schloß. Bald danach zog man sich zurück, denn der Tag begann früh wieder.
Es war kein herzlicher, aber doch ein unausgesetzt friedlicher Verkehr, in dem man lebte, was Lehnert um so mehr Wunder nahm, als die bunte Menschenmasse, daraus sich das Hauswesen von Nogat-Ehre zusammensetzte, nicht einmal durch das Band gemeinsamer kirchlicher Anschauungen zusammengehalten wurde. Die Kaulbarse, Vollblutmärker, hielten zu Luther, Maruschka, die Polin, war katholisch und fuhr alle Jahre zweimal zur Beichte nach Denver, und L’Hermite war schlechtweg Atheist, so daß von der ganzen Obadjaschen Hausgenossenschaft, selbstverständlich mit Ausnahme der eigentlichen Familie, nur die dienenden Cherokee- und Arapahoindianer, Männer und Frauen, zur „Gemeinde“ gehörten, in die sie, nach zuvor empfangenem Unterrichte, meist mit zwanzig bis vierundzwanzig Jahren einzutreten pflegten. Wenn Lehnert das alles überdachte, sah er sich dadurch mehr als einmal an einen nach Art eines großen Vogelbauers eingerichteten Schaukasten in San Francisko erinnert, drin nicht nur ein Hund, ein Hase, eine Maus und eine Katze sammt Kanarienvogel und Uhu, sondern auch ein Storch und eine Schlange friedlich zusammengewohnt hatten. „Eine glückliche Familie“ stand als Aufschrift darüber, und wenn Lehnert so beim Frühstück und Abendessen den langen Tisch musterte, kam ihm der Schaukasten immer wieder in den Sinn und er sprach dann wohl leise vor sich hin: „Eine glückliche Familie!“ Sann er dann aber weiter nach, wodurch dies Wunder bewirkt werde, so fand er keine andere Erklärung als den „Hausgeist“, als Obadja, der das Friedensevangelium nicht bloß predigte, sondern in seiner Erscheinung und seinem Thun auch verkörperte.
Die Folge davon war ein Gefühl immer wachsender Verehrung und Dankbarkeit auf seiten Lehnerts. Wer so wahr und aufrichtig dies Gefühl war, so kam er demohnerachtet zu keiner rechten Freudigkeit. Er fühlte sich vereinsamt und brachte sich’s gelegentlich zu geradezu schmerzlichem Bewußtsein, daß er in seinen schwersten und schlimmsten Tagen, ja vor Jahr und Tag noch bei den zweifelhaften Leuten am Sakramente, heiterer und fast auch glücklicher gewesen sei, als hier unter den Bekehrten und Nichtbekehrten von Nogat-Ehre. Friede und Freundlichkeit waren da, aber was er mehr und mehr vermißte, war Verkehr und Vertraulichkeit. Obadja, mit all seinen Vorzügen, war doch unnahbar, die Geschwister zu jung, Maruschka zu kindisch und Monsieur L’Hermite zu zurückhaltend und zu ablehnend.
Bei diesem Befunde verblieben ihm nur seine Landsleute, die beiden Kaulbarse, und das war hart, weil ihre Nüchternheit keine Grenzen kannte. Dennoch, so nüchtern sie waren und in so lächerlich wichtiger Weise sie sich mit ihrer Lieblingswendung „mein Mann sagt auch“ oder „meine Frau sagt auch“ auf einander zu berufen pflegten, Berufungen, von denen aus ein weiterer Appell nicht wohl mehr möglich war – dennoch sah Lehnert ein, daß er, in Ermanglung von etwas Besserem, durchaus bemüht sein müsse, mit ihnen auf einem möglichst guten Fuße zu leben und das um so mehr, als ihn beide die Thatsache nicht entgelten ließen, daß ihre Machtstellung, das Mindeste zu sagen, durch sein Eintreten
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_146.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)