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Seite:Die Gartenlaube (1890) 775.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

und Diebstahl seien nicht die Mittel, einen solchen Zweck zu erreichen, von solchen Irrwegen wende Gott sich mit Zorn ab; ich wies auf seine Bildung, sein gesundes Urtheil hin, ich fragte ihn, was wohl aus der Welt werden müßte, wenn jeder darin sich sein sogenanntes ‚Recht‘ nehmen würde … sein Recht, das jeder Stand, jede Bildungsklasse anders ansieht, anders auffaßt, das bald hier, bald dort liegen und unnennbares Unglück, grenzenlose Verwirrung heraufbeschwören müßte.

Gewiß sei an der Welt, so wie sie heute sei, vieles unvollkommen und dringend der Verbesserung bedürftig, immer aber sei ein anderer Geist als der der Vernichtung und Zerstörung nöthig, aus dem heraus wir streben müßten, vorwärts zu bringen und Schäden zu beseitigen. – Ob das der Geist der Liebe sei, von welchem alle Geistlichen soviel Redens machten? – Ohne Zweifel! – Ob ich denn zum Beispiel ihn lieben könne, ich, der makellose Gottespriester, ihn, den schweren Verbrecher? – Sicher thäte ich das! Ich sei aber kein makelloser Gottespriester, sondern ein Mensch wie er, und eben, weil ich das sei, spreche das Menschliche aus mir zu ihm mit beredter Stimme – ob denn diese Stimme nicht auch zu ihm geredet habe? – Allerdings, er habe sich, gegen seinen Willen, gleich von Anbeginn zu mir hingezogen gefühlt, trotzdem ich ein Geistlicher sei! – Eben weil ich ein Geistlicher sei, war meine Erwiderung, und was da in ihm für mich spreche, unklar noch und halb verstanden, das sei Gott, derselbe Gott, zu dem ich bete, der mir helfe, wenn ich ihn rufe, der mir auch hier, auch heute helfen werde, wenn ich ihn mit ganzer Kraft meiner Seele bitte, mir beizustehen.

Und dann habe ich ein kurzes Gebet gesprochen aus meinem Herzen heraus, und der Gefangene hat mir zugehört, erstaunt, aber nicht spöttisch, nicht widerwillig oder empört. Und er hat mich mit leiser Stimme gebeten, wiederzukommen, recht bald, und das habe ich ihm versprochen!“

Es blieb eine Weile still unter den blühenben Obstbäumen; endlich nahm der Direktor die schmale Rechte des Pfarrers zwischen seine derben, kurzen Hände und drückte sie kräftig.

„Sehen Sie, ein solches werkthätiges Priesterthum, wie Sie es haben, Herr von Conventius, das lob’ ich mir! Hat uns lange gefehlt! Irgend ein allgemein gehaltenes Gebet und ein paar Bibelsprüche für die Gefangenen, das thut’s nicht! Nein, man muß ihr Leben kennenlernen, auf ihre Ideen eingehen, die Sache vom praktischen Standpunkt angreifen! Hier zumal, wo der Betreffende sich auf Bildung und Aufkärung hinausspielt und den Philosophen des Unbewußten darstellen möchte! Nicht jeder Geistliche hätte sich so ruhig von diesem Teufelskerl ausfragen lassen, ihm so eingehend geantwortet, sich mit ihm gewissermaßen auf gleiche Stufe gestellt. Im übrigen wäre es ihm selbst und auch Ihnen, bester Herr Pfarrer, und Ihrem warmen Eifer zu gönnen, wenn diese arme Sünderseele bald ihren Frieden mit dem Himmel machen wollte, bald, sage ich, denn die Bestätigung des Todesurtheils kann jeden Tag eintreffen, und dann hat’s bis zur Vollstreckung nur noch knappe Frist, – nur noch knappe Frist!“

Reginald erhob sich rasch.

„Ist keine Hoffnung mehr, keine? Und wäre ein Gnadengesuch ganz erfolglos?“

„Es hätte nur dann Erfolg, wenn der Verurtheilte selbst wenigstens den Weg der Gnade beschreiten, zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit, Trunkenheit, fahrlässige Tödtung oder dergleichen einräumen wollte. Aber ‚in allen Punkten geständig‘ heißt es in den Akten immer wieder. Ja, was soll da der Vertheidiger machen? ’s ist ein hoffnungsloser Fall. Also Sie gehen schon, Herr von Conventius? Nun, ergebenster Diener und vielen Dank – vielen Dank!“

„Ein hoffnungsloser Fall – ja!“ sagte sich Reginald auf seinem Heimwege. „Denn der Mann soll sterben, und es giebt für ihn kein Entrinnen vor der irdischen Gerechtigkeit! Und doch nicht ganz hoffnungslos, nicht ganz verloren, nein, nein! Gott wird mich hören, wird mir so gnädig sein und sein unsterblich Theil einfordern durch mich, sein demüthiges Werkzeug! Möge mein Herz fromm und unverzagt, mein Geist stark und muthig sein, mein Mund die rechten Worte finden, damit ich mein hohes Ziel erreiche!“

Und während die Worte in ihm wiederklangen wie ein Gebet, sank leise der Frühlingsabend nieder auf die schöne Welt. Goldene Schleier schwebten am Himmel, ein süßer Duft stieg wie ein Dankopfer von den frisch aufgeblühten Kräutern empor, ehe der Nachtthau kam, sie zu tränken, und ein leises Säuseln strich durch Busch und Baum. Kein Wind war’s, nur ein friedliches Athmen, das die blühenden Bäumchen küßte, die ihren Lenzestraum träumten. – Und in Reginalds Seele küßte dies kosende, weiche Lüftchen den Liebestraum wach, und eine grenzenlose Sehnsucht nach Glück kam über ihn, ein allmächtiges Verlangen nach Annie Gerolds süßem Gesicht, nach ihrer Stimme – ihrem Kuß! Es packte ihn wie mit Allgewalt – es riß ihn vorwärts, trieb ihn seinem Hause zu … gewiß, gewiß, er konnte schon eine Antwort finden!

Und er fand sie!

Dort auf seinem Arbeitstisch, unter dem Lichtschein, den die brennende Lampe auf die purpurrothe Decke warf, lag ein Brief, die Adresse wies eine kraftvolle, große, charakteristische Handschrift aus – schrieb so Annie? Vielleicht, nein, gewiß sogar antwortete ihm die ältere Schwester. Wie seine Hände zitterten, als er den Umschlag öffnete! – –

Da! Verlobt mit einem andern! – Ihm war’s, als hätte er einen eiskalten Schlag ins Herz bekommen – in sein warmes glückdurstiges Herz! Ihm flimmerte es vor den Augen – seine reine und starke Natur sträubte sich, zu glauben, was er las. Konnte denn das sein? War es möglich? Ein Mann liebt ein Mädchen, so wie er liebt, aus voller Seele … und dies Mädchen empfindet nichts davon und geht hin und verlobt sich mit einem andern!

Er biß die Zähne über einander und zwang sich ruhig zu werden und den Brief zu lesen. Er war sehr herzlich abgefaßt, dieser Brief, fast in mütterlichem Ton, und wenn Reginald nicht ganz von dem einen Gedanken beherrscht gewesen wäre, hätte er leicht zwischen den Zeilen herauslesen können, wie es der Schreiberin leid thue, daß es gerade so habe kommen müssen. Aber er sah nichts davon und wenn auch! Was hätte er mit Thekla Gerolds Mitgefühl und ihrem heimlichen Bedauern angefangen!! Sie theilte ihm mit, wie schmerzlich ihre junge Schwester über seinen Brief geweint habe, wieviel Freundschaft und Hochachtung sie für ihn empfinde, ein wehmütiges Lächeln verzog Reginalds Lippen … er hatte mehr gehofft als das!

O Annie, Annie – Lieblichstes und Schönstes, was die ganze weite Welt für ihn hatte! Für ihn gab es nichts Süßeres als ihr rosiges, zartes Gesichtchen, ihren klug aufleuchtenden Blick, ihr helles Lachen! Zu seiner Qual sah und hörte er all dies deutlich vor sich, sah sie in dem Kleide, das sie zuletzt getragen, sah die bittenden, schönen Augen auf sich gerichtet, als sie ihn fragte, ob sie ihm ihre Blumen schicken dürfe, fühlte ihre warme, weiche Hand in der seinen! Ach – hätten sie ihm geschrieben, er solle warten, um sein Glück dienen, es sei nicht alle Hoffnung ausgeschlossen – er würde ein geduldiger Bewerber geworden sein! In Demuth hätte er auf ihren Ausspruch geharrt – aber nun! – Und er, dieser Mann, den er am ersten Abend schon an ihrer Seite gesehen, der wie ein dunkler Schatten gegen ihre Lichterscheinung, ihr sonnenhelles Wesen hervortrat – er hatte sie ihm genommen!! War es denn nicht auch zuviel gewesen, was er, Reginald von Conventius, vom Schicksal gefordert? Wie? Es hatte ihn in seinem so sehr geliebten Beruf begünstigt, ihn in kürzester Frist auf einen hervorragenden, bedeutenden Posten gestellt, ihm verantwortliche Pflichten, wie er sie sich wünschte, gegeben und ihm die Fähigkeit und Kraft verliehen, diesen schweren Pflichten auch gerecht zu werden; es hatte ihm Rang und Ansehen, ein gewinnendes Aeußere und viele Mittel zum Wohlleben und Wohlthun gegeben, – nun streckte er noch nach einem, dem höchsten Besitz, seine Hand aus … er wollte nicht nur geachtet, angesehen und beliebt – er wollte auch glücklich sein! Eine Braut – ein Weib wie Annie Gerold ihm zur Seite, und er hätte den Himmel auf Erden gehabt! – Aber sein Himmel sollte nicht auf Erden sein! –

Ein häßliches, bitteres Gefühl, das seine Seele bisher noch nie gekannt, kam über ihn: der Neid! Neid auf den Glücklichen, der jetzt gewiß, an diesem wonnigen Maiabend, im verschwiegensten Winkel des Geroldschen Gartens saß, sein neues Glück im Arm: an seine Schulter gelehnt das Köpfchen mit dem seidigen, braungoldenen Haar – zu ihm aufblickend die wunderbaren Augen, in denen ein zärtliches Licht entfacht war – für ihn die thaufrischen, lächelnden Kinderlippen – – – –

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 775. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_775.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)
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