Verschiedene: Die Gartenlaube (1890) | |
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Auch im Geroldschen Hause jubelte man nicht über diese Verlobung. Was hatte man sich früher für Gedanken darüber gemacht, wen „das Vögelchen“ sich zum Gatten aussuchen würde! Wie er aussehen – was er sein – wie er sein würde – wie alles kommen müßte – und wie wundervoll es sein sollte, wieder einmal einen „Herrn“ ins Haus zu bekommen – natürlich einen so gütigen, liebevollen und klugen, wie des Vögelchens Vater gewesen war – und wie sie dann alle zusammen die Kleine verwöhnen und lieben und untereinander so recht, recht glücklich sein wollten!
So hatten Agathe und Lamprecht, die ja fast schon zur Familie zählten, gedacht – und ähnlich hatte auch Thekla empfunden … nun war alles gekommen, rasch und unerwartet – aber so ganz anders! Gegen den Bräutigam und seine Stellung und sein Aussehen war nichts einzuwenden – er war ja ein stattlicher, vornehmer Mann, ein berühmter Künstler, der sich schon ein schönes Vermögen erworben hatte und soviel Geld verdienen konnte, wie er nur wollte – aber von einer Zusammengehörigkeit, wie man sie bei Gerolds geträumt, von einem schönen, vertraulichen Verkehr war keine Rede … das ließ sich jetzt schon sagen, obgleich die Brautschaft eben erst angefangen hatte.
Nicht daß Professor Delmont unliebenswürdig gewesen wäre oder es an Höflichkeit hätte fehlen lassen! Er küßte beim Kommen und Gehen regelmäßig Thekla Gerolds Hand, versäumte nie, nach ihrem Befinden zu fragen, schob ihren Rollstuhl, wohin sie ihn zu haben wünschte, und brachte ihr eine herrliche große Photographie seines Gemäldes „Der Engel des Herrn“ – ein Geschenk, das seinen Eindruck nicht verfehlte. Thekla wurde nicht müde, das schöne Gesicht mit dem trauervollen Blick, der alles umfaßte und alles verzieh, anzusehen – es war auch jetzt noch von ergreifender Wirkung, trotzdem der Zauber der Farbe fehlte. Ein Verhältniß aber wie zwischen Bruder und Schwester – und so hatte Thekla mit dem einstigen Gatten ihres „Kindes“ zu verkehren gehofft! – wollte sich nicht anbahnen und – das fühlte sie deutlich – würde sich auch nie gestalten, selbst wenn Jahre darüber hingingen. Für Agathe vollends und deren schüchterne Annäherungsversuche, ihre kleinen Erzählungen von ihrer verstorbenen Herrin und wie ähnlich ihr das Vögelchen sehe, und wie sie – Agathe – beide „Kinder“, ihre Ellinor und ihre Annie, auf dem Arm getragen und gewartet – für all das hatte der Bräutigam nur ein zerstreutes Lächeln oder ein kurz abfertigendes Wort, er beachtete auch den alten Lamprecht so gut wie gar nicht, der doch als ehemaliges Reitpferd und geduldiger Spielkamerad des Kindes ebenfalls Anspruch auf einige Rücksicht zu haben glaubte.
Für Delmont gab es nur ein einziges Wesen auf der ganzen Welt – Annie! Es gab nur ein Gefühl für ihn – seine Liebe zu ihr! In ihr ging er auf, in ihr lebte er, jedes fremde Element, sollte es auch früher noch so untrennbar zu seiner Geliebten gehört haben, war ihm störend. Sie für ihn und er für sie – alles andere konnte fortbleiben; so faßte er die Lage auf und danach benahm er sich. Annie kannte es jetzt schon ganz genau, das unwillige Stirnrunzeln, sobald die Thür sich öffnete und jemand kam, mochte es auch Thekla, mochte es auch Hedwig Weyland oder sonst eine liebe, nahestehende Persönlichkeit sein! Ihm war sie nicht lieb, ihm stand sie nicht nahe, er wollte seine Braut für sich allein haben – mochten doch die Leute bleiben, wo es ihnen gefiel! Seine Stimme, sein Blick, sein Benehmen, alles war wie verwandelt, sobald ein dritter sich zu ihm und Annie gesellte, und wenn sie ihn schüchtern bat: „Sei doch gut, Karl – mir zuliebe!“ dann küßte er leidenschaftlich ihre Hände und murmelte: „Ich kann nicht – ich kann nicht! Sie sollen Dich mir lassen – mir ganz allein! Sie haben ja viele andere noch … ich habe nichts als Dich allein!“ –
Ein aufmerksamer Bräutigam war er freilich! In der Frühe schon erschienen die köstlichsten Blumen, von ihm selbst geordnet, als Morgengruß, Rosen von einer Farbenpracht und Schönheit, wie selbst Annie, das verwöhnte Prinzeßchen, sie noch nicht gesehen hatte. Die prachtvollsten Dinge, die er auf seinen Reisen eingekauft hatte, sandte er ihr – schwere Seidenstoffe mit Gold durchwebt, feine indische Shawls, kostbare Fächer, Trinkgläser, Tischdecken, venetianischen Schmuck, ganze Stöße der schönsten Ansichten und Bilder – – es sah wie in einem Bazar bei Annie aus, und die Freundinnen kamen oft mit lachenden Gesichtern, sich die „Ausstellung“ anzusehen, um die sie die Besitzerin heimlich doch ein klein wenig beneideten. Sie kamen aber nur, wenn der Verlobte nicht da war, vor dem sie insgesammt eine gewisse Scheu empfanden; er war so ernst, so steif und förmlich, so ganz anders, als man sich Annie Gerolds dereinstigen „Schatz“ vorgestellt hatte! Aber freilich – er überschüttete sie mit Geschenken, hatte ihr Diamanten verehrt, wie sie nur Millionärinnen zu tragen pflegten … da mußte man doch annehmen, daß er sie liebte, daß er auch, wenn er sie allein hatte, zärtlich mit ihr war!
Ob er sie liebte! Ob er zärtlich mit ihr war! – In Annies Seele stritten sich Schmerz und Stolz um die Herrschaft miteinander, wenn sie sich immer wieder sagte: „Keiner kennt ihn, wie ich ihn kenne! Von seinem wahren Wesen weiß nur ich ganz allein zu sagen!“
Schmerz, weil es ihr weh that, ihn so verkannt zu sehen, in den Blicken, in den Mienen ihrer Umgebung zu lesen, daß man ihn für empfindungsarm und unzugänglich hielt – Schmerz, weil er es nicht verstand oder nicht verstehen wollte, sich auch nur einen einzigen der ihr lieben und nahestehenden Menschen zu gewinnen – und wiederum war sie stolz darauf, daß dieser Mann ihr alleiniges Besitzthum war, daß er sich ihr so ganz erschloß, so ganz hingab – daß für andere nichts weiter übrig blieb. –
Brautzeit – du selige Zeit! Wenn Annie Gerold an ihrem Fenster saß, dann fühlte sie es genau, wenn er kam, wußte es gewiß, noch ehe sie einen Schatten von ihm sah! Mit versagendem Herzschlag, mit stockendem Athem, wie gelähmt vor Glück saß sie da, die Hände im Schoß, bis sie die Kraft gewann, sich vorzubeugen, hinauszusehen, einen Gruß zu nicken und dann ihm entgegenzustürmen und dem Geliebten in die Arme zu fliegen, der sie ungestüm an sich preßte, als habe er sie wochenlang entbehrt, und ihr abgebrochene Laute der Liebe, der Sehnsucht, des Entzückens ins Ohr flüsterte. –
Oft aber, oft, selbst wenn sie das ersehnte Alleinsein mit einander genossen, mitten in seine leidenschaftlichen Liebkosungen hinein, fiel ein Wort – ein Blick – eine Gebärde, die sie heimlich erstaunen ließ … staunen ließ wie damals, als er ihr an jenem herrlichen Maitage im Park von Heinrichslust gestanden hatte, er habe auf alles Glück verzichtet, er besitze kein Recht darauf, und nun habe er sich selber sein Wort gebrochen. Damals, im Rausch und Taumel des ersten überraschenden Glückssturmes, hatte Annie sich innerlich flüchtig darüber verwundert und sich gefragt, was das wohl zu bedeuten habe – dann hatte sie nicht mehr daran gedacht und würde es vielleicht vergessen haben, wenn nicht er selber dafür gesorgt hätte, daß sie dies nicht konnte.
Wieder, immer wieder dieser gequälte, sich selbst anklagende Blick zu dem Ausruf: „Ich verdiene Dich nicht! – Ich stehle mir mein Glück! – Ich habe kein Recht auf Deine Liebe!“ – Diese Demuth des stolzen Mannes hätte Annie beglücken können, wenn sie gesehen haben würde, daß er selber darin glücklich sei – aber das sah sie nicht! Ein Schatten war da und verschwand und kam wieder, und Annie war viel zu klug und liebte den Mann ihrer Wahl viel zu tief, um sich nicht darüber klar zu werden, daß es wohl in ihrer Macht stand, diesen Schatten für den Augenblick durch ihr Lachen, ihre Rede, den ganzen Zauber ihres Wesens, das so mächtig auf ihn wirkte, zu verscheuchen – nicht aber, ihn für immer zu bannen. Kleinliche weibliche Neugier lag ihr ganz fern, und hier, wo sie mit ihrem ganzen Herzen liebte und vertraute, zu fragen, widerstrebte ihr durchaus, wie sie bereits ihrer Schwester Thekla gestanden hatte. „Wenn er es für gut befindet, wird er es mir freiwillig sagen, was ihn quält!“ dachte sie bei sich.
Aber er sagte es ihr nicht. –
Ein lauer, feuchtwarmer Juninachmittag war’s, es drohte stark mit Regen, und so konnte das Brautpaar keinen Spaziergang unternehmen. Delmont war das angenehm; er liebte es nicht, sich „dem Volke zu zeigen“, geflüsterte Bemerkungen, verstohlene Blicke aufzufangen und sich von hundert Augen begafft zu sehen, wenn er mit der schönen Braut am Arm einherging. In Heinrichslust gab es allerdings versteckte Plätze, einsame Pfade genug, und beide liebten den Park jetzt doppelt, seit sie in ihm ihr Verlöbniß gefeiert … aber bis dort hinaus war es ein weiter Weg.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 779. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_779.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)