Verschiedene: Die Gartenlaube (1890) | |
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So wandelten sie denn im Geroldschen Garten langsam auf und nieder. Die Obstbäume hatten abgeblüht, aber der Flieder hing in schweren lila und weißen Trauben nieder – süßduftende Maréchal Niel-Rosen und herrliche Malmaisons hatten die lieblichen Kelche aufgeschlossen, und die Beete waren besäet mit den ersten Blumen des Frühsommers.
Schwer hing der Blumenduft in den stillen Lüften. Am Himmel stand ein Gewitter – die Vögel flogen unstät vorüber, die Bienchen hatten aufgehört zu summen. Da und dort taumelte noch ein verspäteter Schmetterling über das niedere Gesträuch, und in langen Zwischenräumen schluchzte eine Nachtigall ihr sehnsüchtiges Lied in den vergehenden Lenz hinaus. Von der nahen Lukaskirche tönte regelmäßig feierliches Glockengeläut – eine Sterbeglocke war’s. Ein vereinzelter Sonnenstrahl blinzelte noch einmal grell, wie jählings aus dem Schlaf aufgeschreckt, vom umdunkelten Himmel herab, aber alsbald zogen schwere Wolken drüber weg und erstickten ihn.
Annie war es ein wenig beklommen zu Muthe, obschon sie das Gewitter nicht fürchtete. „Wenn’s nur schon vorüber wäre!“ dachte sie, machte sich von Delmonts Arm los, hob sich auf die Fußspitzen empor und langte mit ausgestreckten Händen nach einer besonders schönen, frisch aufgebrochenen weißen Fliedertraube, die sie für Thekla mit Hereinnehmen wollte.
„Bitte, Liebstes, bleib’ so, wenn Dich’s nicht zu sehr ermüdet – nur für wenige Minuten, ich bitte Dich!“ rief Delmont hastig und dringend, während er rasch sein kleines Skizzenbuch aus der Brusttasche riß.
Das junge Mädchen gehorchte lächelnd. Sie war es schon gewöhnt, daß ihr Verlobter urplötzlich, unvermittelt irgend eine Stellung, einen Ausdruck, eine Gebärde von ihr auf dem Papier festzuhalten wünschte, und er besaß mindestens schon ein Dutzend dieser hastigen, flüchtigen Bildchen von ihr, in fliegender Eile mit dem Stift hingeworfen, oft nur mit einigen Strichen, die er dann später daheim in Muße sorgsam auszuführen pflegte.
„Deine Schönheit ist meine Verzweiflung!“ hatte er zuweilen ausgerufen. „Ich kann mich nicht in Ruhe ihrer erfreuen – immer tritt der Künstler zwischen mich und mein Gefühl und verlangt gebieterisch sein Recht. Meine Augen können sich nicht satt trinken an dieser ungekünstelten Grazie, dem holdseligen Umriß der ganzen Gestalt, dem Spiel der marmorschönen Hände. Ach, und der Augenaufschlag – das köstliche Lächeln – das Abwenden des Köpfchens – jede Bewegung, so, gerade so des Meißels, des Pinsels würdig – es ist zum Entzücken und zum Verzweifeln!“
Und Annie lachte dann und freute sich ihrer jungen Schönheit, aber es war eine unbefangene und eine selbstlose Freude; es war ihr lieb, daß er sie so schön fand.
Auch jetzt stand sie geduldig still, die zart gerundeten Arme hoch erhoben, die Last des überreich blühenden Zweiges zu sich niederziehend. Sie trug ein Kleid von gelblich weißem Batist, reich mit Stickereien verziert, und keinen Schmuck weiter als ein paar von den wundervollen weißen und rothen Rosen, die ihr Verlobter ihr heute früh geschickt hatte.
„Armes, süßes Lieb! Wie anspruchsvoll ich bin! Noch einen Augenbick – ich beeile mich schon! Weißt Du, ich fürchte, ich werde in Zukunft zu den Malern gehören, die nicht umhin können, auf jedem neuen Bilde ihre Frau anzubringen!“
„O Karl! Denk’ doch einmal an Deine ‚rastende Karawane‘, die Du jetzt fertig malst – und unter all den Arabern ich mitten darunter!“
„Es sind ja auch Europäer dabei! Aber freilich, nein, auf dem Bilde ginge es nicht an! Die Figuren sind in zu kleinem Maßstab angelegt – wer bekäme da einen Begriff von Deinem liebreizenden Gesicht, von allem, was –“
„Du hörst jetzt gleich auf, mir Komplimente zu sagen, oder ich lasse den Fliederzweig los!“
„Ums Himmels willen, nein! Aber Komplimente? Ich – und Komplimente! Das Wort nimmst Du zurück!“
„Und wenn nicht?“
„Dann setzt es eine fürchterliche Strafe. Hörst Du den Donner in der Ferne?“
„Ich höre ihn!“
„Fertig! So! Mein süßes, engelsgutes, geduldiges Herz! Wie Du mir stillgehalten hast! Bist Du sehr müde? Komm zu mir – so – und nun schilt mich! Schilt mich tüchtig aus!“
Er hatte sie an sich gezogen und küßte sie wieder und wieder. Sie sah mit schelmischen Augen zu ihm auf, befreite sich endlich aus seinen Armen, fuhr ihm mit der weißen Fliedertraube neckisch über die Augen und rief lachend: „Ich soll schelten, und Du lässest mich nicht einmal zu Wort kommen! Uebrigens weiß ich gar nicht, warum ich mit Dir so geduldig bin – das ist sonst keineswegs meine Stärke. Thekla wirft mir manchmal vor, daß ich keine rechte Stätigkeit in mir habe. Jetzt zeig’ einmal die Skizze her!“
„Aber, mein Herz, es sind ja nur ein paar Striche!“
„Du zeigst die Skizze her! Ich will sie sehen, Deine Paar Striche!“
Sie wußte, wie sehr er diesen scheinbaren kleinen Trotz an ihr liebte,
„Nun denn – da – Du kleiner Eigensinn! Zufrieden – wie?“
„Ach, wie hübsch!“ rief sie naiv. Und hübsch war’s auch, das kleine, rasch hingestrichelte Bildchen der anmuthigen Gestalt, des reizenden Profils und der nickenden Fliederbüsche.
„Das Gewitter zieht näher – komm, Liebster, wir müssen hinein!“
Er that, als hörte er nicht, und drückte seine Lippen auf ihre sammetweichen Handflächen; vereinzelte Regentropfen begannen zu fallen. – Aus dem „Nußgang“, so genannt, weil die hoch und kraftvoll emporstrebenden Haselnußstauden sich oben zu einem Dach verschlangen, kam der alte Lamprecht mit einer riesigen Gartenschere, die große derbe Schürze mit abgeschnittenem Grünzeug angefüllt; der alte Mann blieb neben dem Brautpaar stehen und zeigte mit der Gartenschere nach dem Himmel.
„’s giebt gleich was Ordentliches! Vögelchen sollte man laufen, daß es hineinkommt!“
Annie nickte ein zerstreutes „ja, ja“, und Delmont hörte überhaupt nicht – er war gerade damit beschäftigt, Annie ein paar Narzissen ins Haar zu stecken. Der Alte blieb noch ein Weilchen stehen und besah sich das Paar, dann, da die Regentropfen immer dichter auf seinen kahlen Scheitel herabfielen, lief er kopfschüttelnd davon.
Drinnen im Gartenzimmer – dasselbe hatte zwischen den beiden Fenstern eine Flügelthür mit bunten Glasscheiben, die im Sommer gewöhnlich offen stand und mit drei Stufen in den Garten führte – saß Thekla und wollte eigentlich Feuerbach studieren. Aber das konnte sie nicht, denn erstens fing es an, im Zimmer finster zu werden, so daß das Lesen ihr die Augen angriff, und zweitens war sie mit ihren Gedanken nicht bei den Feuerbachschen Lehrsätzen, sondern bei dem Brautpaar, das sie von ihrem Platz aus beobachten konnte.
„Davon hat er natürlich keine Ahnung!“ dachte sie. „Er würde sonst nicht so zärtlich mit Annie sein – in meiner Gegenwart küßt er ihr ja kaum einmal die Hand – sonderbarer Heiliger, der er ist! Nun hat er sie wieder einmal gezeichnet – und werth ist sie es freilich – mein schönes, süßes, geliebtes Kleinod! Himmel, wenn er sie nur glücklich macht – ich will ja gern in den Hintergrund treten und gar nichts mehr von ihr haben … Gern? Und gar nichts mehr von ihr haben? Das ist nun geradezu gelogen – und ich will ein Philosophenzögling sein! Ich hänge ja mit meinem ganzen Herzen an diesem Kinde – ich weiß einfach nicht, wie ich ohne dasselbe leben soll! Das macht, sie hat mich verwöhnt – immer war sie um mich … für Auge, Herz und Geist die richtige Erfrischung! Und sie würde auch weiter mein Kind bleiben, wenn auch erst in zweiter Linie, sie hat mir’s ja gesagt: wer so glücklich sei wie sie, habe doppelte Liebe und Zärtlichkeit für seine Nächsten und Theuersten im Herzen; ich glaube es ihr auch, sie ist so köstlich wahr – aber er, er! Er leidet es ja nicht, daß sie andern, denen sie bis dahin ganz gehörte, auch nur ein Almosen von dem Reichthum spendet, den er besitzt … ganz und gar will er sie für sich haben, mit jedem Gefühl, jedem Gedanken – ein rechter, echter selbstsüchtiger Mann! O mein Vögelchen – mein Liebling! Wie sie spät abends, wenn er fort ist, noch zu mir hereinschlüpft und durch doppelte Zärtlichkeit alles wieder gutzumachen strebt, was sie tagüber versäumen mußte! Sie liebt ihn ja – wunderbarerweise! – und ist für jetzt sehr glücklich! Aber wird das Glück Dauer haben, wenn er das freie, lustige Vögelchen so ganz in den Käfig sperrt, wenn es immer nur für ihn da sein muß und
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 780. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_780.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)