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Seite:Die Gartenlaube (1890) 812.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

hatte, so theilte sie dieselben redlich mit ihren Gefährten, ebenso aber verlangte sie ihren Antheil, wenn ein anderer etwas Schönes hatte. Unbefangen, als müßte es so und nicht anders sein, streckte Lieschen dann sein Händchen aus, um die erwartete Gabe in Empfang zu nehmen, und blieb diese einmal aus, dann kam ein Zug äußersten Erstaunens in seine klaren Kinderaugen – es begriff eben gar nicht, daß man etwas haben und nichts davon abgeben könne! –

Und eines Tages war das sonst so rothwangige, lachlustige Kind todtenbleich und still ins Haus gebracht worden – es hatte einen grauenhaften Sturz aus einer hohen Bodenluke gethan und war auf der Stelle todt gewesen – das Haus war seitdem wie ausgestorben, und Heinrich Schönfeld hatte seine ersten bitteren Schmerzensthränen geweint und seinen ersten Kummer gehabt. „Heini“ hatte sie ihn immer gerufen, da sie mit dem r noch ihre Mühe hatte – es hatte ihn seitdem nie wieder ein Mensch so genannt! –

Jahrzehnte hindurch hatte er nicht mehr an das kleine Geschöpf gedacht – wie stand es ihm jetzt urplötzlich lebhaft, greifbar deutlich vor Augen in seinem kurzen Kleidchen von verschossener rother Farbe und den abgewetzten winzigen Lederschuhen! Allerdings – sein Leben sollte zu Ende gehen, da knüpften die Gedanken unwillkürlich wieder an den frühesten Anfang an – er hatte das irgendwo gehört oder gelesen! – Diese Einsamkeit, die ihn umgab – diese tiefe, beklommene Stille! Und jetzt wieder dieser eisige Schauer – immer noch dies seltsame innere Zittern! War er krank? Er horchte angestrengt hinaus – war keine Menschenstimme vernehmbar – fiel kein Tritt auf den Steinfliesen des Flurs? Alles still, wie ausgestorben! Wenn doch der Pfarrer käme! Aber um diese Zeit würde es sicher nicht geschehen. Wieviel Uhr mochte es sein? Die alte Freundin vom nahen Thurm hatte so lange nicht zu ihm gesprochen – oder hatte er es nur überhört? Seinen eigenen Herzschlag konnte er belauschen – angstvoll – unregelmäßig! Allein und verlassen! – Conventius hatte gesagt: „Allein und verlassen ist niemand! Gott ist bei ihm, sobald er ihn ruft!“

War er auch bei ihm, dem zum Tode Verdammten, der Blut vergossen und fremdes Gut genommen hatte? War das Gott, der aus dem Angstruf der zitternden Seele sprach – war das Gott, der seine Hände jetzt zusammenfügte und sein Haupt sich beugen ließ? „Erbarme Dich meiner!“ flüsterte er tonlos – und noch einmal: „Erbarme Dich meiner!“

Da fiel mit dumpfem Ton eine ferne Thür ins Schloß – noch eine – aber schon näher – wieder eine – sehr nahe – rasche, feste Tritte wurden hörbar – ein wohlbekannter Laut von aneinander rasselnden Schlüsseln – es kam jemand – er blieb nicht länger allein mit seiner hilflosen Angst! Auf der Schwelle stand eine hohe, schlanke Gestalt mit einem edeln schönen Gesicht – stand und sah in das Antlitz des Gefangenen, der immer noch regungslos am Tisch saß – und winkte hastig dem Schließer zum Gehen, trat dicht zu dem Verurtheilten heran, schloß seine warmen, lebensvollen Hände gefaltet um die eiskalten, bebenden und sagte mit leiser Stimme: „Wir wollen heute miteinander beten!“ – – –

Nun war es schon seit geraumer Zeit still in der Zelle; Reginalds tiefe Stimme war verstummt, verstummt waren auch die leisen, abgebrochenen Laute aus Schönfelds Brust. Aber immer noch hielt der Geistliche die Rechte des Mörders fest in der seinen, und dieser klammerte sich an die starke, warme Hand wie an die letzte Stütze, die das Leben, aus dem er so bald scheiden sollte, ihm noch bot. – Der Sonnenstrahl war weitergerückt, er fiel nur ganz schräg noch in das Zimmer und streifte Reginalds blondes Haar. Die drückende Schwüle hatte nachgelassen, der Gefangene vermochte wieder frei zu athmen.

„Ich habe einen Wunsch!“ begann er endlich mit heiserer, stockender Stimme.

„Wenn es in meiner Macht steht, ihn zu erfüllen, so soll das geschehen!“

„Ich – ich möchte Ihnen von meiner Vergangenheit erzählen – aus meinem Leben – aber Sie haben gewiß keine Zeit –“

„Ich habe immer Zeit!“ entgegnete Reginald mild. „Und Sie wissen es ja, für Ihr Leben habe ich viel Interesse gehabt. Das wenige, was ich aus den Akten über Sie weiß, ist nur, daß Sie in Hamburg geboren sind, wo Sie etwa bis zu Ihrem achtundzwanzigsten Jahre als Kaufmann, theils Handlungsgehilfe, theils Comptoirist, gelebt haben – die Thatsache, daß Ihnen die Eltern sehr früh gestorben, die Geschwister fremd geworden sind – daß Sie dann eine geraume Zeit in London waren und von da nach Amerika gingen, wo Sie lange in verschiedenen Städten – New-Orleans, Cincinnati, St. Louis, San Francisko – Ihren Aufenthalt nahmen, um endlich wieder nach Europa zurückzukehren. Alles, was dazwischenliegt, ist mir verborgen –“

„Es ist das beste, daß das meiste davon Ihnen auch verborgen bleibt!“ fiel Schönfeld ein. Seine Brauen hatten sich finster gefurcht, um seine Lippen lief ein Zucken. „Von dem Tage an, da ich nach London ging, war ich schon das, was man vom Standpunkt staatsbürgerlicher Rechtschaffenheit einen Verbrecher nennt – das Mitglied, bald das Oberhaupt einer fest organisirten Gesellschaft, von deren System und Verbreitung ich nicht reden werde. Aber ich habe mir vorgenommen, Ihnen die volle Wahrheit zu sagen über ein anderes Stück meiner Lebensgeschichte, von meiner Hamburger Zeit möchte ich mit Ihnen sprechen. Denn dort ist gewissermaßen die Wurzel zu suchen von allem, was später verderblich und bösartig in mir aufstrebte. Daß ich die Eltern früh verlor, als ich noch in die Hamburger Stadtschule ging, wissen Sie. Ich war der älteste von fünf damals lebenden Geschwistern, Vermögen hatten wir keinen Heller, und es galt, sobald als möglich etwas zu verdienen. Man nahm mich alsbald aus der Schule, in der ich mich nicht schlecht gehalten hatte, – namentlich war ich ein guter Rechner gewesen – und gab mich als Laufjunge, Austräger und so weiter in ein kaufmännisches Geschäft, in dem ich es sehr schwer hatte und nur wenig erwarb. Ich kam nicht weiter, der Herr weigerte sich, mich von meinem untergeordneten Posten auf einen höhern zu erheben, und so ging ich dort fort und kam als Lehrling in ein Materialwarengeschäft, in welchem sich einer der dortigen jungen Leute meiner annahm, mir Bücher lieh, mich rechnen ließ und Buchführung lehrte. Er fand Vergnügen daran, mich zu unterrichten, nannte mich einen anschlägigen Kopf, der es zu etwas bringen werde, und verhieß mir durch seine Verbindungen – es waren lauter Makler, Kleinhändler, Kaufleute – bald eine bessere Stelle, in der ich meine ‚Fähigkeiten‘ voll entwickeln könnte. Das dauerte denn aber doch ein paar Jahre, während welcher ich eifrig dem Materialwarenhandel oblag, mich aber immer mehr nach einer Comptoirstellung sehnte, die meinen Neigungen am meisten entsprach. Ich frischte in meinen Mußestunden meine halbvergessenen französischen Kenntnisse aus, ich fing an, auf eigene Faust Englisch zu treiben, und stümperte mich langsam in dieser Sprache weiter. Meine Thätigkeit wurde mir aber immer unangenehmer, je älter ich wurde, und so begrüßte ich denn mit Freuden einen Vorschlag, den mein ehemaliger Beschützer, der inzwischen längst das Geschäft verlassen, mich aber nicht aus den Augen verloren hatte, mir machte. Er kam sehr zögernd mit seinem Plan heraus, meinte, es sei kein schöner Posten, den er für mich im Sinn habe, es würde ihn gar nicht wundern, wenn ich es dort nicht aushielte – es sei eben nur, weil meine jetzige Beschäftigung mir so zuwider wäre – und so fort.

Schließlich, auf mein eifriges Zureden, erfuhr ich, daß es sich um eine Stelle bei einem alten, in der Hamburger Geschäftswelt überaus verrufenen Manne handelte, der einen Gehilfen für seinen Buchhalter und Korrespondenten suchte. Der Alte betrieb eine Art von überseeischem Handel, er hatte Antheil an verschiedenen Schiffen, betheiligte sich mit Einlagen von Geld bei mehreren Firmen, die sammt und sonders keinen sehr sauberen Namen trugen, machte auch auf eigene Hand Geschäfte im Getreidehandel, im Kaffeeumsatz und dergleichen – alles mit großem Glück. Sein Haupterwerb aber bestand darin, daß er, mit Hilfe eines abgefeimten Winkeladvokaten, armen Leuten Geld zu hohen Prozenten lieh, sich ihr ganzes Hab und Gut aneignete und die Beraubten nackt und hilflos von seiner Thür jagte, wobei er seine Sache immer so schlau anfing, daß ihn gerichtlich niemand fassen konnte. Von diesem letzteren Umstand erfuhr ich damals nichts, ich hörte nur, der alte Heßberg sei steinreich, außerordentlich geizig, nehme es mit der Reinlichkeit seines Geschäftsbetriebes nicht genau und sei überhaupt ein von allen gemiedener Sonderling. So wenig verlockend das klang, war ich dennoch fest entschlossen, die Stelle anzunehmen, denn ich wollte um jeden Preis in einen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1890, Seite 812. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_812.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)
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