Verschiedene: Die Gartenlaube (1890) | |
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neuen Wirkungskreis hinein, und es hätte sich mir, meiner lückenhaften
Kenntnisse und mangelnden Verbindungen halber, sicher
sobald kein anderer aufgethan. Im übrigen – ich war jung
und muthig – was ging es mich an, wie mein künftiger Prinzipal
unter den Leuten angesehen wurde unb welcher Art seine Ehrbegriffe
waren? Für mich handelte sich’s in erster Linie darum,
zu lernen, viel zu lernen, wozu ich fest entschlossen war und
wozu sich mir vollauf Gelegenheit bieten würde. – Hätte ich
ahnen können, was mir bevorstand – hätte ich ahnen können!“
Schönfeld ließ das Haupt sinken und starrte eine Weile stumm und finster vor sich hin.
„Im alten Theil von Hamburg,“ fuhr er nach einer langen Pause fort, "stand das schmale, baufällige Haus, in das ich meinen harmlosen Jugendsinn, meine unschuldige Welt- und Lebensauffassung hineintrug, um sie auf immer darin zu begraben und Jahre darauf statt ihrer einen bittern, wilden, unauslöschlichen Haß gegen die Besitzenden, die Kapitalisten mit mir zu nehmen. Mich hat keine innere Stimme gewarnt, ich ahnte nicht, daß ich dermaleinst als Anarchist, als Revolutionär über diese Schwelle schreiten würde!
Das alte Haus sah engbrüstig und wie von einem feuchten Schimmel überzogen aus – innen roch es nach dumpfem Moder. Als ich einzog – ich sollte ein Zimmer hier beziehen – empfing mich der Buchhalter, der gleichfalls mit seiner Familie im Hause eine Wohnung hatte. Gleich die Erscheinung dieses Mannes machte mich stutzen – er sah aus wie ein vornehmer Herr, wie ein verkappter Edelmann; seine formgewandten Manieren, seine Redeweise, alles imponirte mir, der ich bisher nichts Aehnliches in meinen Kreisen gesehen hatte, bis zur Verblüffung. Wie kam ein Mann wie dieser hierher – in diese Stellung? Ich erfuhr später, daß er einer aus Frankreich gebürtigen, ehemals hochangesehenen Emigrantenfamilie entstammte, ganz jung und hilflos seine Angehörigen verloren hatte und durch widrige Verhältnisse aller Art herabgedrückt worden war. Eine ausgeprägte Schwermuth, eine Art von unheilbarer Melancholie, die seinem ganzen Wesen gleichsam den Stempel aufdrückte, ließ mir den Mann – seinen Namen möchte ich Ihnen nicht nennen – noch anziehender erscheinen; ich kam lange Zeit gar nicht aus dem Grübeln und Erstaunen über ihn heraus, zumal er eine kaufmännische Gewandtheit, eine Sprachkenntniß und Umsicht an den Tag legte, die mich, den unerfahrenen jungen Menschen, vollständig blendete, indessen auch heute noch meine vollste Bewunderung erregen und verdienen würde.
Er war sehr gütig gegen mich und führte mich gleich am
ersten Tage in seine Familie ein, indem er die Hoffnung aussprach,
daß ich mich dort anschließen und etwaige Freistunden des
öftern im Kreise der Seinigen zubringen würde. Ich fand eine
Frau, so zart und schön wie eine Blume, aber wie eine Blume,
die im Entblättern, Hinwelken und Sterben begriffen ist – blond,
zart, liebreizend, mit großen, unnatürlich klaren Augen, mit
Farben wie ein Hauch, und einem eigenthümlich leichten, schwebenden
Gang, wie ich ihn nie, weder vorher noch nachher, je gesehen
habe. Sie hatte schon damals ein tödliches Leiden, um das
sie wußte, das sie aber mit heroischer Tapferkeit Mann und
Kindern verschwieg. Ein paar kleine blonde Wesen, zart und
süß wie die Mutter, tummelten sich in den düstern,
feuchtkalten Zimmern, die mir für diese Frau und diese Kinder wie
eine sichere Todtengruft erschienen; dem Vater glich
nur ein einziges Kind – sein ältester Sohn, der,
als ich ihn zum ersten Male sah, vor einem Reißbrett
stand und mit schwarzer Kreide so zauberschnell und
mit so genialer Sicherheit einen Kopf aus dem Gedächtniß
auf das aufgespannte Papier hinzeichnete, daß ich sprachlos
vor Entzücken stehen blieb. Der hochaufgeschossene Junge
war etwa siebzehnjährig, Primaner eines Gymnasiums,
vielversprechend in jeder Hinsicht, aber so offenbar
zum Künstler geboren, daß über seine spätere Laufbahn
nicht der leiseste Zweifel aufkommen konnte.
Ebenso feingebildet und begabt wie sein Vater, unterschied
er sich doch in seinem Wesen auffallend von diesem; der Junge
loderte geradezu vor Feuer und Leidenschaft, alles an ihm war Kraft,
stürmender Thatendrang – ein prachtvolles, junges Menschenbild!
Wenn ich jemals einen Menschen in meinem Leben bewundert und
geliebt habe, so war es dieser! Und ich hab’ es ihm bewiesen –
ja mit Stolz kann ich es sagen – ich hab’ es ihm bewiesen bis
heute! –
Mindestens fünf bis sechs Jahre älter als er, war ich doch der Schüchterne, der Nehmende – er der Großmüthige, Gewährende; seine Erzählungen von seinem Schülerleben, seinen Lehrern und Freunden, seinen Plänen für die Zukunft erfüllten mich mit Begeisterung, ich hätte ihm tagelang zuhören können. Als er mir meine Schicksale abgefragt und vernommen hatte, daß ich die Schule frühzeitig, um des Broterwerbs willen, zu verlassen gezwungen gewesen sei, als er von meinen mühseligen Selbststudien hörte, erbot er sich sofort, mir Unterricht zu ertheilen in allen Fächern, in denen es mir fehlte und die ich doch nicht entbehren zu können meinte. Ich nahm dies Anerbieten voll dankbarer
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 813. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_813.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)