verschiedene: Die Gartenlaube (1890) | |
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für die er eingestandenermaßen friedliche Lösung selbst noch nicht weiß; der zukunftsgläubige Idealist mit dem Bekenntniß seiner Ueberzeugung, daß die Entwickelung der Menschheit trotz aller Hindernisse der Verwirklichung eines Reichs der Wahrheit, der Liebe, der Gerechtigkeit und Daseinsfreude entgegengehe … Aber die düstere Zweifelfrage: „Was will das werden?“ bleibt in Erwartung der nächsten Zukunft allerwärts bestehen.
Da kommt mit jenem stillen Lächeln um die Lippen, das der Humor erzeugt, ein Sohn des nordamerikanischen Freistaats, der hohen Schule des praktischen Lebenssinns, zu uns herüber und lädt uns ein, er wolle uns ein Märchen erzählen. Seine Stimme ist mild und freundlich, seine Rede ist ernst, fast trocken; aber um seine Augen ziehen sich die Fältchen verhaltener Freude, und aus den Augen dringt ein warmer Strahl froher Begeisterung, der eine ungewöhnliche Verheißung als Schlußsatz des Märchens ahnen läßt. Und er erzählt uns, wie er im Jahre 1887 durch die Behandlung eines Magnetiseurs in einen langen, langen Schlummer verfallen sei, in einem fest geschlossenen unterirdischen Gewölbe, das er sich wegen seiner Schlaflosigkeit als Schlafkabinett hatte bauen lassen, und wie er erst im Jahre 2000 wieder erwacht sei, ohne darüber eins seiner Lebensjahre eingebüßt zu haben. Er erzählt, wie Menschen eines andern Geschlechts, eines andern Jahrhunderts in sein bis dahin unentdeckt gebliebenes Gemach gedrungen, ihn ins Leben gerufen und freundlich aufgenommen haben in ihrer ihm so fremden Welt. Mit dem Aerger über einen langwierigen Arbeiterstreik, mit den häßlichen Eindrücken von Anzeichen einer gährenden Revolution sei er eingeschlafen; erwacht aber nun zu einem Zustand der Gesellschaft, in welchem die Menschen wie Brüder einträchtig zusammen leben, ohne Streit und Neid, Gewaltthat und Uebervortheilung; in welchem jeder in einem freigewählten Berufe gegen Leistung eines Maßes von Arbeit, das nicht größer ist, als es der Gesundheit zuträglich, völlig befreit ist von der Sorge um den kommenden Tag; in welchem es keine Unterschiede mehr giebt zwischen arm und reich, gebildet und ungebildet, sondern alle Menschen reich sind an Glück und Bildung, weil sie alle gleichen Antheil und Genuß am Nationalvermögen haben, zu dem sie alle nach ihrer Kraft und Art ein gleiches Maß durch ihre Arbeit beitragen. Und er zeigt uns, wie dieser Zustand herbeigeführt worden ist nicht durch „Theilung“ des Privatbesitzes an alle zu gleichen Theilen, sondern durch Abschaffung des Privatbesitzes, vor allem des Geldes, sowie des Handels, des Kaufverkehrs und des Kreditwesens mit eingebildeten Werthen, und an deren Stelle getreten ist der gleiche Kreditantheil aller am Vermögen der Nation, erworben durch pflichtmäßige Arbeit vom 21. bis zum 45. Jahre, und durch ein großartiges Kooperativsystem, eine Organisation der Arbeit, in welcher der Grundsatz der Arbeitstheilung und derjenige der genossenschaftlichen Erzeugung in gleichem Maße zur Geltung kommen.
Das neue Boston des Jahrs 2000 öffnet unseren erstaunten Blicken die Thore: eine Stadt mit breiten Straßen, die, von Bäumen beschattet und mit prächtigen Gebäuden umsäumt, auf Plätze münden, aus deren Parkanlagen Springbrunnen und Statuen hervorleuchten und die von kolossalen öffentlichen Gebäuden flankirt sind. Er führt uns in die Riesenbazare ein, wo die übersichtlichste Einrichtung eines Warenprobenlagers und praktischste Ausnutzung technischer Hilfsmittel es jedem Besucher ermöglicht, ohne besondere Bedienung jede beliebige Auswahl zu treffen und Bestellung zu machen, die durch eine ebenso prompte Expeditionsmaschinerie umgehend erledigt wird, so daß die Ware oft noch vor dem Käufer in dessen Haus ist. Käufer? Nun, ja! Jeder Bürger, jede Bürgerin, sie haben für ihre Person eine Kreditkarte, die auf ihren jährlichen Antheil am Nationalvermögen ausgestellt ist und auf welcher bei jeder Erwerbung der entsprechende Betrag kupirt wird.
Das neue Boston kennt keine Herren und keine Diener, nur Arbeiter und Arbeiterinnen, deren Gesammtheit ähnlich gegliedert ist wie ein Heer bei allgemeiner Wehrpflicht, und in welchem die Wahl der Waffe, d. h. der Berufsart, dem persönlichen Ermessen überlassen bleibt, das Aufrücken zu leitenden Stellen aber durch die persönliche Leistung bestimmt wird. Die ganze Nation, Frauen und Männer, geht in diesem Heer auf; an seiner Spitze steht der Präsident der Nationalrepublik; die Veteranen, welche Ehrenmitglieder ihrer Berufsgenossenschaften sind, üben durch Wahl die Besetzung der oberen Verwaltungsposten aus. Der neue Staat kennt keinen Neid, keinen Diebstahl, keine Heirath aus Eigennutz, keine Vermögensprozesse, keinen Krieg, weil er kein Geld kennt. Er übernimmt die Erziehung der Kinder mit der ausgesprochenen Absicht, deren eigenthümliche Anlagen für irgend einen Arbeitszweig zu entdecken, zu entwickeln und für die Zwecke der nationalen Arbeit zu üben.
Und damit es dem persönlichen Ehrgeiz nicht an Zielen fehle, winken der besonderen Leistung als Lohn öffentliche Anerkennung, soziale Auszeichnung, amtliche Machtstellung. Das künstlerische und wissenschaftliche Talent findet seine besondere Wartung; der Genuß der Kunst ist Allgemeingut bei reichster Auswahl für den persönlichen Geschmack; vom 45. Jahre an ist der Hauptzweck des Daseins, nur noch den höheren Genüssen der Kultur zu leben.
Gar anziehend, das Herz mit Ahnungen eines neuen goldenen Zeitalters berauschend, entrollt Bellamy diese Bilder. Und jeden Zweifel, der sich gegen die Möglichkeit dieser Friedenswelt regt, ist er sofort bereit, zu beschwichtigen durch blendende Beweisführung, den Protest des Individualismus durch die eifervolle Versicherung, daß in seinem Zukunftsstaat die persönliche Freiheit, die Behaglichkeit des Familienlebens, die Lust an Bewegung und Veränderung keineswegs zu kurz kommen.
Aber freilich – ein Märchen ist ein Märchen! Es kann uns schöne Zukunftsträume noch so glaubhaft machen, ihre Erfüllung bleibt Sache der Zukunft. Die Gegenwart kann sie nur durch Beherzigung des sittlichen Kerns verwerthen. Auch Bellamys Zukunftsstaat der nationalisirten Arbeit ist eine „Utopie“, ein „Nirgendheim“, wie Thomas Morus’ „Utopia“, Bacons „Neue Atlantis“, Campanellas Sonnenstaat oder die idealen Gesichte, denen Schillers Posa und Lessings Nathan Ausdruck verleihen. Aber noch nie hat sich ein Erzeugniß der Phantasie, wie es jede Utopie ist, so sehr an das Vorhandene anzulehnen verstanden wie Bellamys „Jahr 2000“, noch nie war für eine solche Prophetie so viel Wirklichkeitsstoff zur Anknüpfung in der Welt wie in unseren Tagen, wo die Ueberraschungen der Technik, die Fortschritte des neuen Kulturmotors, der Elektricität, die Erfolge der Verstaatlichung großer Betriebsanstalten, wie der Eisenbahnen, der Drang der Industrie zu bisher unerhörter Zusammenfassung der Arbeit etc. auf große Veränderungen in allen Gebieten des sozialen Lebens hinweisen.
Und mit großer Kunst hat der ebenso warmherzige wie phantasiereiche Amerikaner all das Wirkliche zur scheinbar festen Unterlage seines luftigen Baus gemacht, den er als verlockendes Zauberbild in den blauen Aether der Zukunft emporthürmt. Daher das vielerorts auftretende Mißverständniß, dies Werk eines humoristischen Dichters für ein ernstgemeintes Sozialreformprogramm zu nehmen; daher die Thatsache, daß eine neue politische Partei in Amerika schon jetzt ihre Forderungen auf Bellamys Looking backward stützt; daher die Gerüchte, in Boston bestehe bereits ein Verein, der begonnen habe, Bellamys Pläne „probeweise“ zu verwirklichen! Für den denkenden Menschen richten solche Versuche, den Traum eines Dichters in die rauhe Welt der Wirklichkeit einzuführen, sich selbst. Er weiß, daß dies immer und überall ein vergebliches Beginnen bleibt. Er faßt die luftigen Gespinste einer weitausgreifenden Phantasie als das, was sie sind, als die gestaltgewordene Sehnsucht einer edlen Seele, als ein Bekenntniß zu dem Glauben an den Fortschritt der Menschheit. Und fortschreiten wird die Menschheit, wenn sie auch den Sprung ins Land der Märchen niemals machen wird; fortschreiten wird sie, aber die Weltentwicklung läßt sich nicht meistern, nicht von dem Dichter und nicht von dem Revolutionsmanne; fortschreiten wird sie – dieser Glaube ist es, der auch um Bellamys Buch eine so große Gemeinde versammelt hat.
verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1890, Seite 851. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_851.jpg&oldid=- (Version vom 2.7.2023)