Verschiedene: Die Gartenlaube (1890) | |
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Eva zuckte die Achseln. Dann nahm sie ihre Salatschüssel auf, ließ Burkhard ohne Gruß stehen und ging ins Haus zurück. Burkhard sah ihr eine Weile nach, dann verließ auch er den Hof.
Im Hausflur begegnete Eva dem kleinen Magnus, der mit seinem Segelschiffchen zur Thür hinaus wollte.
„Wo gehst Du hin?“ fragte sie zerstreut, das Herz noch voll zorniger Erregung über Burkhards Reden.
„An den Mühlbach,“ erwiderte Magnus.
„Fall’ ja nicht hinein!“ warnte Eva.
„Nein, nein!“ versicherte Magnus.
Er schlüpfte eiligst hinaus.
Die Nebel, die aus den Wiesenthälern aufstiegen, verkündeten das Nahen des Abends.
Die Dreschmaschine, die um sechs Uhr in den Unterhof gefahren werden sollte, war aus der Scheuer herausgeschoben worden; aber nun stand sie verlassen im Hof und niemand dachte daran, die Pferde anzuschirren. Im Otterhofe herrschte Bestürzung und Aufregung, denn bereits seit zwei Stunden vermißte man den kleinen Magnus, und alle Bewohner des Hofes, alle Nachbarn waren unterwegs, um ihn zu suchen. Einige durchstöberten mit Stangen den nur wenige Fuß tiefen Mühlbach; das Wehr war gerade geschlossen gewesen und das Mühlrad gestellt, so daß bald festgestellt werden konnte, daß das Kind nicht darin lag; andere liefen die Landstraße entlang oder suchten im Walde. Der kleine Gänsehirte dachte an den Ententeich hinter der Hutwiese, und da Magnus mit seinem Segelschiffchen weggegangen war, eilte er dorthin.
Der Otterhofbauer, der mit angstgefoltertem Herzen es kaum über sich vermochte, äußerlich ruhig zu bleiben, kam auf den Gedanken, Magnus könnte seinem geliebten Rupert in die Klausenschlucht nachgefolgt sein, und machte sich schleunigst auf den Weg dorthin; er sagte keinem Menschen etwas davon, er wollte allein sein mit seiner Angst, deren er sich vor Zeugen geschämt hätte. Er hatte sein Weib zu einer Nachbarin sagen hören: „Der Jakob ist ganz auseinander vor Angst,“ und ihm, der so stolz auf seine kaltblütige Ruhe war, hatte das einen empfindlichen Stich ins Herz gegeben.
Die Ruhe, mit der inzwischen die Bäuerin die Kartoffeln zur Abendsuppe schälte und in Scheiben in den Topf schnitt, war keine erkünstelte; es kam ja hundertmal vor, daß Kinder sich verliefen, es war ganz in der Ordnung, daß man sie suchte, aber wozu diese erregten Gesichter, das Hin- und Herlaufen, diese Aufregung, als wäre etwas Unerhörtes geschehen? Es war gut, dachte die Bäuerin, daß sie vernünftiger war! Sie allein war daheim geblieben und that gelassen die liegengebliebene Arbeit; auch die Abendsuppe ihres Söhnchens, die Eva bereits gekocht hatte, hielt sie sorgfältig warm und hütete sie vor dem Ueberkochen.
Jetzt sah sie den kleinen Gänsehirten in größter Eile über den Hof laufen. „So, der wird ihn wohl gefunden haben,“ dachte sie, den Topf mit Magnus’ Suppe etwas zur Seite schiebend, um sie abkühlen zu lassen. Magnus aß nichts Heißes.
„Bäuerin, Bäuerin!“ rief athemlos der Gänsehirt, „der Magnus liegt drüben am Ententeich, dicht am Rande. Er ist ganz naß und zittert so, daß er nicht gehen kann. Zum Tragen ist er mir zu schwer, kommt schnell!“
„Bleib’ hier in der Küche, Peterle, es ist sonst niemand daheim,“ sagte die Bäuerin, sich die Hände an der Schürze abwischend. „Wenn der Speck geschmolzen ist, kannst Du die Zwiebeln hineinthun.“
So schnell, wie ihre Behäbigkeit es erlaubte, eilte sie über die Hutwiese, über welcher der Nebel dick und feucht lag, auf den Ententeich zu; an seinem mit einzelnem Strauchwerk bepflanzten Rand fand sie Magnus, ganz in sich zusammengekauert, mit nassen Kleidern, zitternd und wimmernd.
„Was hast Du denn angestellt, Du böser Bub’?“ fragte sie, indem sie ihn in die Arme nahm; „bist in den Teich gefallen?“
Magnus’ Zähne klapperten, er gab keine Antwort.
„Wirst Dich recht verkältet haben,“ sagte die Mutter, und noch schneller, als sie gekommen war, eilte sie auf den Hof zurück. Dort zog sie Magnus aus, rieb ihn mit warmen Tüchern, steckte ihn in sein mit vielen heißen Steinkrügen erwärmtes Bett, gab ihm die bereitgehaltene Suppe und hieß ihn schlafen. Da sie sah, daß er zum Erzählen zu erschöpft war, fragte sie ihn nicht weiter aus; es war ja auch ganz unwichtig, zu erfahren, was ihm geschehen war. Nach einigen Minuten ging sie leise zur Kammerthür und sah nach, ob Magnus schlief; er lag wach, erhitzt und aufgeregt in seinen Kissen.
„Mutter, Mutter, geh nicht fort!“ rief er, als er die Bäuerin erblickte.
„Warum nicht?“ entgegnete sie. „Du fürchtest Dich doch nicht? Ich will mein Spinnrad holen und mich zu Dir setzen.“
„Nein, nein, bleib hier!“ sagte Magnus aufgeregt und weinerlich. „Hol Dein Spinnrad nicht! Wenn Du hinausgehst, kommst Du nicht wieder herein!“
Die Bäuerin setzte sich auf eine Truhe und blieb ruhig sitzen, bis tiefe, ruhige, wenn auch etwas heisere Athemzüge ihr ankündigten, daß der kleine Ausreißer fest eingeschlafen war.
Peter war mittlerweile herumgelaufen und hatte die Nachricht von Magnus’ Rückkehr verbreitet. Zum Otterhofbauer wäre sie wohl nicht gedrungen, denn an die Klausenschlucht dachte niemand; dieser aber war nach einiger Zeit von selbst umgekehrt, um, von planloser Unruhe getrieben, noch einmal, ehe er weiter ging, auf dem Hofe nachzusehen, ob man Magnus nicht etwa gefunden habe. Eine Centnerlast fiel ihm vom Herzen, als er erfuhr, daß sein Liebling ruhig schlafend und unverletzt im Bette liege; am liebsten hätte er laut aufgeweint oder laut aufgejubelt; aber keins von beiden that er und versagte es sich sogar, in die Kammer zu gehen und sich an dem Anblick des wiedergefundenen Kindes zu weiden; es galt jetzt doppelt, allen Leuten, die ihm die Angst angemerkt hatten, Ruhe zu zeigen.
Er bemerke sofort die Dreschmaschine und fragte unwillig, ob Rupert noch nicht zurückgekommen sei. Die Knechte wußten nichts, sie waren bloß herumgelaufen, Magnus zu suchen. Da vor Einbruch der Nacht viel versäumte Arbeit nachzuholen war, so war niemand da, um die Dreschmaschine auf den Unterhof zu fahren, und nach einer halben Stunde ungeduldigen Wartens machte sich Jakob zum zweitenmal auf den Weg zur Klausenschlucht, um nachzusehen, wo Rupert so lange bliebe. Bei dessen Pünktlichkeit und Pflichttreue war anzunehmen, daß ihm ein Unfall zugestoßen sei; dennoch ging Jakob viel leichteren Herzens als vorhin den steilen, felsigen Pfad hinauf, der in die Klausenschlucht führte.
Es war eine unheimliche, öde Gegend; der Pfad führte hoch hinauf in den Wald oberhalb des Wasserfalles und wurde nur zu Zeiten, wenn dort oben Holz gefällt wurde, von Waldarbeitern betreten, sonst war er stets unbegangen. Eng wand er sich zwischen dem hohen, aus Felsstücken und Geröll bestehenden Abhang, auf dessen Höhe düstere Tannenwaldungen sich meilenweit erstreckten, und dem mit starkem Gefälle gurgelnd und rauschend herunterschießenden Wasser empor. Oberhalb des Wasserfalles wurde die Schlucht breiter und der Pfad führte vom Wasser ab, seitwärts in den Tannenwald, dessen dunkle Tiefen ins Unendliche zu führen schienen.
Bis zum Wasserfall aber brauchte Jakob nicht zu gehen. Schon halbwegs traf er mit Rupert zusammen. Dieser saß auf einem Stein am Rande des Wassers, in gebeugter müder Haltung, mit bleichem verstörten Gesicht, über welches Blut herabrieselte; auch seine Kleider und seine Hände waren blutig und seine von Blut verklebten Haare zeugten von einer Wunde am Kopfe. Er achtete nicht auf Jakobs Nahen und blickte nicht zu ihm auf, als dieser vor ihm stehen blieb.
„Na, Rupert, was ist Dir denn geschehen?“ fragte der Bauer in mehr unzufriedenem als mitleidigem Tone.
„Nichts,“ erwiderte Rupert, dumpf vor sich hinstarrend.
„Nichts? Du blutest aber!“
Rupert fuhr sich mit der Hand nach dem Kopfe, als müßte er sich überzeugen, daß er verwundet sei. Dann zog er sein Taschentuch hervor und begann es zusammenzulegen, um sich damit zu verbinden.
„Komm nach Haus!“ sagte Jakob, „Du bist schlimm zugerichtet und hast Deine fünf Sinne nicht mehr beisammen. Kannst Du nicht einmal sagen, was Dir geschehen ist?“
„Ich bin gestürzt,“ erwiderte Rupert mit matter Stimme. „Sagt es dem Vater und der Mutter nicht!“
Ruperts verstörtes Wesen fiel dem Bauer auf; er sah ihn scharf an und fragte mit finster gekrauster Stirn:
„Sag’, Bursche, Du hast doch nicht etwa Streit mit dem
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 855. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_855.jpg&oldid=- (Version vom 2.7.2023)