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Seite:Die Gartenlaube (1890) 863.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Allmächtiger Herrgott, Du wirst mir doch das Kind nicht sterben lassen, Rupert …“

Heftig wurde die Thür aufgerissen; der Arzt stürzte in die Stube und hinter ihm erschien Eva.

„Da ist er wirklich!“ rief der Arzt. „Otterhofbauer, seid Ihr vom Satan besessen, daß Ihr das Scharlachkind in stürmischer Nacht spazieren tragt? Wenn es noch in dieser Stunde stirbt, so habt Ihr’s auf dem Gewissen und könnt nachher herumgehen und mit Eurer Mörderhand Kranke heilen!“

Mittlerweile war Eva zu Rupert herangeschlichen, und verstohlen, aber heftig, drückte sie ihm die Hand.

„Immer, wenn sie mich zum Mörder machen wollen, bist Du da und zeigst mir, daß Du mich nicht im Stiche läßt!“ sagte er leise und innig; „das ist lieb und gut von Dir, Eva! Aber nun mach’, daß Du den Bauer heimbringst mit seinem armen Wurm!“

„Oheim, kommt heim!“ bat Eva und legte ihre zitternde Hand auf Jakobs Arm.

„Ich rühr’ mich nicht von der Stelle, keinen Schritt weich’ ich!“ schrie Jakob laut, Magnus krampfhaft festhaltend, der die Augen weit aufriß und, von Frost geschüttelt, sich auf den Armen seines Vaters bäumte. „Rupert, hast Du denn kein Erbarmen mit dem unschuldigen Kind? Und Du brauchst doch nur die Hand auszustrecken, um es zu retten!“

Er ergriff Evas Hand und fuhr fort:

„Die Ev’ geb’ ich Dir und alles, was Du sonst noch haben willst, mir ist die ganze Erde nichts mehr werth. wenn das Kind nicht mehr darauf ist, und mir ist’s dann gleichgültig, ob Gott oder der Teufel mich abholt aus diesem elenden Leben.“

„Versündige Dich nicht, Schwager!“ bat der Moorheidler, von Grauen gepackt; „bet’ zum Herrgott, daß er Dir das Kind erhält und daß er Dir verzeiht, denn Du weißt ja nicht, was Du thust!“

„Schwager!“ rief Jakob, der jetzt mit beiden Armen den in qualvoller Unruhe sich wälzenden kleinen Kranken festhalten mußte, „hab’ ich Dir nicht immer geholfen und beigestanden, hab’ ich …“

„Du hast’s wohl meistens gut gemeint, Schwager,“ sagte der nachsichtige Moorheidler ausweichend.

„Allmächtiger Himmel!“ schrie Jakob plötzlich auf, „ich glaub’, es geht zu Ende! … Magnus, Magnus, mein kleiner Bub’, das darfst Du Deinem Vater nicht anthun! Du darfst nicht sterben!“

Es entstand eine tiefe Stille, jeder horchte auf die röchelnden Töne, die sich der schwer arbeitenden kleinen Brust entrangen; die weit aufgerissenen, starren Augen hatten einen Ausdruck irrer Angst.

Der Arzt wollte den Kleinen aus des Vaters Armen nehmen, aber Jakob hielt ihn krampfhaft fest und wandte sich wieder zu dem finster dreinschauenden Rupert, der sich in eine Ecke des Zimmers zurückgezogen hatte.

„Hilf, hilf!“ flehte ihn Jakob an; „ich will Dir alles thun, Dich schätzen und hochhalten, nur leugne jetzt den Mord nicht! – oder leugne ihn, wenn Du willst, aber streck’ Deine Hand aus …“

„Schweig, Ehrabschneider!“ schrie Rupert und stürzte mit wutverzerrtem Gesicht auf Jakob los und schüttelte ihn so, daß die silbernen Knöpfe seiner Jacke kirrend aneinander schlugen. Aber der verzweifelte Otterhofbauer war halb sinnlos vor Angst, der thätliche Angriff und die Beschimpfung kamen ihm nicht zum Bewußtsein, er fühlte nur die Weigerung heraus. Er warf sich seinem einstmaligen Knechte zu Füßen und bestürmte ihn aufs neue mit Bitten und Versprechungen, bis ihm die Stimme versagte und er in Thränen ausbrach. Dem Arzte schnitt dieser Anblick ins Herz.

„Thu’ es doch!“ sagte er zu dem verwirrt und verstört dastehenden Rupert; „sonst verliert er den Verstand!“

„Thu’ es nicht!“ schrie der Moorheidler auf. „Was der Teufel die Seinigen lehrt, soll ein Unschuldiger nicht nachmachen!“

Rupert hatte auf die Mahnung des Arztes hin schon die Hand bewegt, jetzt zog er sie wieder zurück.

„Ich kann nicht … steht auf, Bauer!“ preßte er hervor.

„Rett’ mir das Kind, Rupert!“ keuchte Jakob.

„Thu’s!“ drängte leise der Arzt. „Es wird nichts helfen, aber es kann doch auch nichts schaden, und ich sag’ Dir, er wird sonst toll, noch eh’ das Kind todt ist. Vorwärts, daß die Geschichte ein Ende nimmt!“

Der Arzt hatte, seitdem er durch sein Gutachten vor Gericht den Rupert gerettet, großen Einfluß auf ihn. Jetzt streckte Rupert mechanisch die Hand aus und legte sie auf Magnus’ Brust, wo sie Jakob ergriff und auf das Herz lenkte, sie fest darauf drückend. Aber schleunigst zog sie Rupert zurück, er bereute schon, nachgegeben zu haben.

„Es wird nichts helfen!“ murmelte er.

Jakob sprang auf.

„Ob es hilft oder nicht,“ rief er und bedeckte Magnus’ glühendes Gesichtchen mit Küssen; „ich dank’ es Dir ewig, und magst Du zehnmal ein Mörder sein!“

(Schluß folgt.)




Hermann Heiberg.

Von Ernst Wechsler.

Auf meinen täglichen Spaziergängen durch die Leipziger- und Friedrichstraße in Berlin, wo die gewaltigen Wellen des Weltverkehrs auf- und niederrollen, begegne ich sehr häufig einer auffallenden Erscheinung, einem ungewöhnlich großen, schlanken und doch kräftig gebauten Mann, der sich in merksamer Weise von den vorüberhuschenden Alltagsgestalten abhebt, einem Mann mit schmalgeformtem, scharf hervortretendem Gesicht, langer nervös witternder Nase und unheimlich klugen, freundlich blickenden Augen. In ruhiger Gelassenheit schreitet er durch die Straßen, die Art seines Ganges, die Weise, mit der er den Hut lüftet oder seinen näheren Bekannten zunickt, verrathen seine geschmeidige Formen und den kundigen Weltmann. Wäre mir der Mann persönlich unbekannt geblieben, hätte ich kaum der Versuchung widerstehen können, ihn mir als Modell zu leihen und zum Mittelpunkt einer interessanten Novelle zu machen; das gütige Schicksal aber bewahrte die deutsche Litteratur vor dieser Bereicherung, indem es mich mit der Thatsache rechtzeitig vertraut werden ließ, daß der Mann selber Novellen schreibe. Für den Ausfall meiner Geschichte wurde ich jedoch aufs schönste entschädigt, denn ich lernte in meinem „Modell“ einen der liebenswürdigsten und geselligsten Menschen kennen. Ja, ich gehe soweit, zu behaupten, daß er der liebenswürdigste und geselligste Schriftsteller von ganz Berlin ist. Nach diesem Satze weiß jedermann, der nur einigermaßen die Berliner literarischen Kreise kennt, wen ich meine, auch wenn dessen Name nicht an der Spitze dieses Aufsatzes stände. Die Verehrer der Heibergschen Schriften werden darüber einigermaßen erstaunt sein, denn das alte, längst erprobte Wort, daß die Autoren das Gegentheil ihrer Bücher seien, paßt auf ihn keineswegs. Jene köstliche Behaglichkeit, jener zur künstlerischen Vollendung sich steigernde Lebensgenuß, jenes heißblütige und warmherzige Erfassen der Außenwelt – herrliche Eigenschaften, die uns den Menschen Helberg so lieb und werth machen, sie blühen uns mit nicht geringerer Kraft aus seinen Werken entgegen, von denen ja auch die Leser der „Gartenlaube“ den Roman „Ein Mann“ in diesem Jahrgange kennengelernt haben.

Hermann Heiberg ist in der modernen Litteratur eine ganz eigene Erscheinung. Ich wüßte augenblicklich keinen zweiten gegenwärtigen deutschen Schriftsteller zu nennen, der in das Weltgetriebe nach seinen verschiedensten Richtungen hin so genau Einblick zu nehmen Gelegenheit gehabt hätte, als ihn. Das Schicksal hat ihn dabei keineswegs mit Sammethandschuhen angefaßt und erst nach vielen bitteren Prüfungen und Erfahrungen rang er sich zu jener geläuterten, sonnighellen Weltanschauung empor, in welcher alle seine Werke wurzeln. Hermann Heiberg ist der Zeit seines ersten Auftretens nach einer unserer jüngeren Schriftsteller: im Jahre 1881 erschien er mit seinen „Plaudereien mit der Herzogin von Seeland“ und binnen wenigen Jahren gelang es ihm, in der deutschen Litteratur einen vordersten Rang und die wärmste Verehrung der weitesten Leserkreise sich zu erobern. Er sprang aber nicht als unklarer Jüngling, sondern als ausgereifter Mann in die Litteratur hinein.

Er wurde am 17. November 1840 in Schleswig als der Sohn eines angesehenen Rechtsanwalts, der sich um die Verbreitung deutscher Ideen im Norden große Verdienste erworden hat, geboren. Der Dichter erzählt von sich, daß er ein übermüthiger, zu tollen Streichen stets aufgelegter Knabe gewesen sei, und mit einem gewissen schmunzelnden Behagen stellt er eine Liste jener Possen auf, die er seinen Lehrern gespielt. Er sagt, der Kitzel, seine Umgebung in Gang, Haltung und Worten zu kopiren und karikieren, sei ihm angeboren gewesen. Wem fallen dabei nicht seine entzückenden, rührend heiteren Kindergeschichten ein? Auch in allerlei Leibesübungen brachte er es zu einer großen Gewandtheit: er war ein Schwimmer, lag mit dem Segelboot auf dem Wasser, konnte reiten und kutschiren, spielte Komödie, sang, blies auf der Flöte, schwang das Tanzbein, war überhaupt von der Natur zu allem leidlich veranlagt mit – einer Ausnahme: „Mathematik,“ seufzte er, „war und blieb mir ewig ein chinesisches Alphabet!“ Diese Mittheilungen sind für denjenigen, welcher dem Zusammenhang zwischen der Person eines Autors und dessen Büchern nachspürt, von Wichtigkeit,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 863. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_863.jpg&oldid=- (Version vom 27.1.2023)
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