verschiedene: Die Gartenlaube (1890) | |
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denn die Kinder- und Hundegeschichten Heibergs gehören zum Eigenartigsten, Ursprünglichsten und Ergreifendsten, was wir diesem Autor überhaupt verdanken, und zeigen, daß einem Künstler nur dann eine vollendete Leistung gelingt, wenn er seine Stoffe, seine Stimmungen und Scenerien aus dem unmittelbaren Born der Wirklichkeit schöpft, und der zwölfjährige Heiberg, der den unwiderstehlichen Drang empfindet, trotz der schlimmen Erfahrungen, die sein Rücken dabei machte, alles zu kopiren und karikieren, bereitete sich schon damals für seinen Beruf vor, das Leben darzustellen. Seine Leser werden übrigens finden, daß Heiberg die Gabe, falkenschnell zu beobachten und die Linien der Wirklichkeit ein wenig ins Lächerliche und Drastische zu verschieben, bis heute sich ungeschmälert bewahrt hat.
Familienverhältnisse zwangen den heranwachsenden Jüngling, von seiner Absicht, Jura zu studieren, abzustehen; nachdem er die Schule verlassen, wurde er im Jahre 1857 Buchhändler, entwickelte als Verwalter und Begründer größerer Unternehmungen eine rege Thätigkeit. Er erwarb eine eigene Druckerei und betrieb einen umfangreichen Schulbücher-Verlag; aber nicht lange duldete es ihn in dieser Thätigkeit, er verkaufte sein Besitzthum und siedelte nach Berlin über. Hier trat er an die Spitze einer Reihe bedeutender Anstalten: er leitete den geschäftlichen Theil der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“, dann übernahm er die Direktion der „Spenerschen Zeitung“, und als dieses Blatt einging, wurde er in die Direktion der Preußischen Bankanstalt berufen. „Ich befaßte mich,“ sagt Heiberg, „mit dem eigentlichen Bank-, wenn auch nicht mit dem Börsengeschäft, lernte das Versicherungs-, Terrain-, Häuser- und Hypothekenwesen kennen, das Getriebe und Treiben der großen Emissionsbanken, die vielseitigen kaufmännischen Spezialitäten, die Fabrik- und Bergwerksverhältnisse und machte während längerer Jahre viele ausgedehnte Reisen durch Deutschland, die Schweiz, Holland, Dänemark, Belgien, England und Frankreich.“
Als Heibergs Bank infolge des Zusammenbruchs einer Stettiner Firma in Liquidation treten mußte, stellte er sich auf eigene Füße und befaßte sich mit der Einleitung zur Finanzirung von Sekundäreisenbahn- und Tramway-Unternehmungen, aber er zog sich schließlich infolge übler Erfahrungen und nach Verlust der Früchte seines Fleißes von allen geschäftlichen Dingen zurück – und schrieb, „um seine mißmuthigen Gedanken zu tödten“, sein erstes Buch.
Dieses erste Buch waren die „Plaudereien mit der Herzogin von Seeland“. Es wirkte überraschend und verblüffend wie etwas vollständig Neues, bisher Ungesagtes. Niemand konnte ahnen, daß diese Skizzen, Feuilletons, Plaudereien und Stimmungsbilder das Ergebniß einer mißmuthigen Laune waren, denn sie quellen über von romantisch schimmernden, bizarren, drolligen, gemüthstiefen Einfällen, die in ihrer Zusammenstellung und Gesammtheit einen bestrickenden Zauber auf den Leser ausüben. Das Geheimniß dieser Wirkung besteht vielleicht darin, daß sich das Buch wie ein allerliebster, ausgelassener Backfisch giebt, in Wahrheit aber die Seele und den Verstand eines ausgereiften Menschen besitzt. Die „Plaudereien“ lenkten mit einem Schlage die Aufmerksamkeit der tonangebenden Kritik auf das neue Talent, und nun hatte der ehemalige Bankdirektor sich selbst gefunden. Er stand auf einem Gebiete, auf welchem er seine glänzende Begabung ungehemmt entfalten konnte. Im Laufe von kaum zehn Jahren gingen aus seiner Hand ungefähr zwei Dutzend Bände hervor, von denen ein ansehnlicher Theil einen bleibenden Werth besitzt und seinem Urheber einen unverrückbaren Ehrenplatz in der deutschen Litteratur sichert.
Das Ungestüme, Springende, Improvisirende seines Wesens, wie es in den „Plaudereien“ und in „Ausgetobt“, einer Geschichte von entzückender Frische und Laune, zutage tritt, finden wir in den folgenden Werken gemildert und geglättet. Mit überraschender Schnelligkeit hat sich Heiberg die Regeln und Handgriffe der modernsten Erzählungskunst angeeignet und meistert sie mit künstlerischer Fertigkeit. Dieser Vorzug allein hätte ihn durchaus nicht zu einem verwöhnten Liebling des Publikums gemacht, wenn er nicht noch andere gewichtige Eigenschaften besessen hätte. Es ist eine psychologisch merkwürdige Thatsache, daß Hermann Heiberg, dessen Schicksale eine Reihe hastig abwechselnder Gegensätze und aufregender Erlebnisse bilden, das deutsche Familienleben in seiner süßen Traulichkeit, innigen Behaglichkeit und keuschen Weise so anmuthig, so farbenleuchtend und so anschaulich schilderte, wie es nur wenigen gegenwärtigen Autoren gelungen ist. Hermann Heiberg hat sich durch diese Seite seines Wesens zum Familienschriftsteller im vorzüglichen Sinne aufgeschwungen. In letzter Zeit haben gallige und verbitterte Kritiker dem Familienroman den Krieg erklärt. Ist es aber gerecht, weil es einige schlechte Schriftsteller giebt, welche in Bezug auf Handlung und Charakteristik überspannte und unmögliche Familienromane verbrochen haben, gleich die ganze Gattung zu verurtheilen? Ich für mein Theil kann mir kein schöneres und edleres Ziel denken, als auf Tausende junger, unbefangener Herzen zu wirken, im engen Kreise der Familie gelesen zu werden und dort den Sinn für das Gute und Wahre in der Kunst zu wecken. Man nehme zum Beispiel eine der Heibergschen Novellensammlnngen („Acht Novellen“, „Ein Buch“, „Ernsthafte Geschichten“, „Neue Novellen“, „Liebeswerben“, welche wie seine sämmtlichen Schriften und zwar in wiederholten Auflagen bei Wilhelm Friedrich in Leipzig erschienen sind) zur Hand, und man wird sich erfreuen und erquicken an der Fülle lieblicher Familienbilder, während solche in seinen Romanen, wie die Leser es ja aus „Ein Mann“ wissen, einen wesentlichen Bestandtheil der Handlung selbst bilden.
Die größten Erfolge erntete Heiberg indessen nicht mit Novellen, sondern mit Romanen. So stattlich die Anzahl derselben auch ist, in jedem einzelnen läßt der Autor seine Begabung von einer neuen Seite spielen, in jedem einzelnen behandelt er ein anderes Problem, und seine Phantasie ist unerschöpflich in der Erfindung spannender, eigenthümlicher und ergreifender Auftritte. Zeigte sich in der „Goldenen Schlange“ noch ein allzu vorwiegend romantischer Zug, so bewegte sich der Autor in dem meisterhaften „Apotheker Heinrich“ vollends auf dem Boden der poetischen Wirklichkeit. Viele halten diesen Roman für Heibergs hervorragendstes Werk. Es ist schwer, diese Frage entscheidend zu beantworten, denn wir besitzen aus seiner Feder noch viele Werke, die auf die Leser keine geringere Wirkung ausübten. Glühende Leidenschaft athmen „Esthers Ehe“ und „Ein Weib“, in welchen beiden Dichtungen Hermann Heiberg sich als großen Kenner des weiblichen Geschlechtes erweist; aufregende tragische Ereignisse stehen hier dicht neben idyllischen Ruhepausen und halten den Leser von Anfang bis zum Schluß in unablässiger Spannung. Einen überraschenden Gegensatz zu diesen dramatisch belebten Romanen bildet die „vornehme Frau“. Eine eigene Goldglanzstimmung, wie über einer Rheinlandschaft, geht durch dieses edle und vornehme Werk. Hermann Heiberg versteht es eben, aus der Fülle seiner Erfahrungen heraus die verschiedensten, räthselhaftesten Frauencharaktere zu gestalten und sie in die Mitte einer eigenartigen Handlung zu rücken. In dem zweibändigen Roman „Der Januskopf“ erweitert er den Horizont seiner bisherigen Schöpfungen in bedeutsamer Weise: er entrollt uns ein großes, farbenreiches Bild aus dem sozialen Leben der Gegenwart. Das Wesen des Buchhandels, der durch Tausende von Kanälen in die breiten Massen des Publikums den stolzen Strom deutscher Poesie und Wissenschaft lenkt, erfährt durch Heiberg eine vertiefte, plastische und lebenstrotzende poetische Ausgestaltung. In seinen weiteren Werken, „Menschen untereinander“, „Kays Töchter“, „Schulter an Schulter“, „Dunst aus der Tiefe“, „Die Spinne“, zeigt er sich immer mehr und mehr als ein Erzähler, in dessen Schöpfungen das moderne Leben sich nach den verschiedensten Richtungen hin widerspiegelt.
Im Laufe seiner Thätigkeit entwickelte sich in ihm eine Seite seines Talentes, welche ihn zu einer litterarischen Besonderheit machte. Die Berliner Lokalbelletristik, welche in den letzten Jahren üppig in die Halme geschossen ist, besitzt in ihm einen ihrer begabtesten und erfolgreichsten Vertreter. Man braucht nur Romane wie „Esthers Ehe“, „Die Spinne“, „Dunst aus der Tiefe“ zu lesen, um sofort zu erkennen, wie viele Berliner Farben Heiberg auf seiner Palette hat, und wie er es versteht, durch Mischung derselben die feinsten Stimmungen hervorzubringen. Heutzutage ist es Mode geworden, bei jedem erfolggekrönten Autor zu fragen, ob er Realist oder Idealist ist. In richtiger Auffassung des Wesens der echten Kunst hat sich Heiberg von allen Auswüchsen des französischen Naturalismus ferngehalten und nimmt sozusagen, wie jeder wahre und selbständige Künstler, eine vermittelnde Stellung ein. Was er gestaltet, ist poetisch und wirkt wie ein in eine höhere Sphäre emporgehobenes Stück Leben. Er schafft getreu nach der Natur, aber er veredelt und durchgeistigt sie.
Blätter und Blüthen.
Der Zählkommissar im Hinterhause. (Mit Abbildung S. 861.) Es ist keine Kleinigkeit, Millionen zu zählen. Ein zungenfertiger Mensch kann bei deutlicher Aussprache der Zahlen in einer Minute etwa bis 200 gelangen. Er braucht also, um eine Million zu zählen, rund 5000 Minuten oder 83 1/3 Stunden oder 8 volle Arbeitstage. Wollte er bis zur Höhe der letzten Bevölkerungszahl des Deutschen Reiches mit rund 47 Millionen weiterzählen, so müßte er sich schon 3916 2/3 Stunden bemühen, er würde also schon in einem ganzen Jahre nicht mehr fertig. Und nun sollten am 1. Dezember d. J. diese 47 Millionen sammt dem Zuwachs seit 1885 nicht bloß gezählt, sondern auch aufgeschrieben, nach Namen, Stand, Religion und allerlei anderen Gesichtspunkten bestimmt und verzeichnet werden – welch eine Riesenarbeit! Kein Wunder, daß, um diese Millionenzählung zu bewältigen, fast wieder Millionen von Zählern erforderlich waren!
Die Beamten, die sonst wohl mit der Bevölkerungsstatistik beschäftigt sind, reichen natürlich bei der alle fünf Jahre wiederkehrenden allgemeinen Volkszählung lange nicht aus, und so ist es üblich geworden, in allen
verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1890, Seite 864. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_864.jpg&oldid=- (Version vom 27.1.2023)