Verschiedene: Die Gartenlaube (1890) | |
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fliehen, aber es schien auch nur so, denn in der letzten Zeit hat Dein klarer, liebevoller Blick, wie er in banger Frage auf mir ruhte, meine Qual noch verzehnfacht!
Um Gotteswillen, frage nicht – nein – ich mache es Dir unmöglich, daß Du fragst! Ich leide mehr, als ich sagen kann, und ich glaube nicht, daß ein Mensch auf dieser leiderfüllten Erde unglücklicher ist als ich. Die Verkörperung seines höchsten Ideals von Glück und Lebensfülle vor sich zu sehen, dicht vor sich – und zu wissen, es ist erreichbar – man darf nur den Muth haben, die Hand auszustrecken, es sich anzueignen, um überreich fürs ganze Leben zu sein und nun sich unaufhörlich sagen zu müssen, du hast kein Recht darauf – Annie – kann es einen trostloseren Gedanken geben? –
Ich denke an Dich und an mich zugleich, wenn ich Dein Schicksal von dem meinigen löse: es hätte für mich keine Ruhe – keinen Frieden – nur ewige Angst – eine Seelenfolter, die mich das Leben nicht ertragen ließe, gebracht, für Dich aber eine jährlich, täglich wachsende Pein – ein ruheloses Grübeln – ein Heer von quälenden Gedanken … dies das Los eines Wesens, dem ich ein Paradies auf Erden hätte bereiten wollen?
Versuch’ es, mir zu verzeihen, daß ich in Dein Leben eingriff, daß ich die Kraft, die Selbstbeherrschung nicht besaß, Dir fern zu bleiben! Annie, mein Herz, verzeih’ mir das! Ich blicke zurück auf eine Erinnerung, einen Liebestraum, so wonnig und schön, wie nur die Gottbegnadeten unter den Menschen ihn haben dürften – Dir stehle ich eine köstliche Spanne Glück und Freude, denn Dein treues zärtliches Herz wird lange um mich trauern und es schwer finden, mich zu vergessen, ich weiß es! Aber, glaube es mir, ich werde hart bestraft dafür, daß ich Dir dies angethan!
Und Du bist jung, bist vielseitig begabt und elastischen Geistes; Gottlob, für Dich wird die Zeit noch die große, allmächtige Trösterin sein, die sanft und unmerklich Dein wundes Herz zu heilen versteht. Für mich ist sie nur das Mittel, mehr und mehr aus einem Leben entrückt zu werden, das keine Sonne und keine Hoffnung mehr kennt.
Denke an mich als an einen unheilbar Kranken, dem nichts zu helfen imstande ist – selbst nicht Deine Sorge und Deine Liebe! –
Und versuche nicht, meine Spur zu entdecken, es wäre umsonst! Wenn Du diesen Brief erhältst, bin ich schon weit von dem Ort entfernt, an welchem ich ihn schrieb, und ich habe Sorge getragen, daß man mich nicht auffindet. Ob ich später wieder arbeiten kann, weiß ich nicht – es ist wie eine todte Wüste in mir und um mich her! –
Wie ich Dir danke für alles, was Du mir gewesen bist, das vermag ich in Worten nicht auszudrücken. Mein ganzes Leben, Dir allein gewidmet, würde nicht ausgereicht haben, Dir dies zu beweisen. Ueberschwänglich reich hast Du mich gemacht, und daß ich nun so bettelarm dastehe, ist lediglich meine Schuld.
Ich werde mein Leben nie freiwillig von mir werfen, denn ich habe eine Schuld zu sühnen und will sie büßen, aber Du, Annie, sende, wenn Dir mein Andenken theuer ist, ein Gebet zu dem Gott, an den Du glaubst, empor, er möge mein Dasein bald auflösen in das große Nichts, das alles Lebende in sich aufnimmt!
Noch einmal kniee ich im Geist zu Deinen Füßen, wie ich es
im Lehen so oft gethan habe, und sage Dir tausendfältigen Dank
und flehe Verzeihung an für mich!
Karl Delmont.“
Thekla hatte gelesen und bog den Kopf zurück; Annie war
noch immer merkwürdig blaß und ihre Augen flimmerten.
„Träume ich das alles nur, Thea?“ fragte sie endlich mit halber Stimme.
„Mein Kind – komm’ hierher – so – blick’ nicht so starr vor Dich hin – könntest Du nur weinen!“
Annie schüttelte den Kopf.
„Mir ist so, als hätte mir jemand das Herz in der Brust todtgeschlagen – und das hat Karl gethan, der mich so lieb hatte! Aber ich werde ja nicht daran zu Grunde gehen; gebrochene Herzen giebt es nicht mehr, sagen die Menschen!“
Sie nahm den Brief, legte ihn sorgfältig wieder zusammen und steckte ihn in den Umschlag, alles mit einer ganz unnatürlichen Ruhe, die Thekla je länger je mehr beängstigte. Dann stand sie auf und räumte ihre Arbeit fort, sammelte jedes verstreute Seidenfädchen auf, schloß alle Haken des Etuis und trug es an seinen Platz. Endlich blieb sie mitten im Zimmer stehen und sah sich darin um.
„Wenn ich nur wüßte, was ich jetzt noch im Leben soll!“ sagte sie halblaut vor sich hin.
Thekla biß die Zähne fest zusammen und senkte den Kopf tief auf ihre Brust. Sie wußte es ja so genau: der Schmerz ist immer selbstsüchtig, und die Jugend ist meist, ohne es zu wissen, hart – sie denkt an sich und schont nicht des andern! Aber daß auch Annie so war, – ihr Kind – ihr Kleinod – das Wesen, das sie vom ersten Tage seines Daseins mit selbstloser Liebe und Sorgfalt behütet, das für sie, die arme Kranke, der einzige Zweck ihres Daseins gewesen war, und das nun sie fragte, was sie im Leben noch solle!! – –
Annies Blick war auf den Fensterscheiben haften geblieben, an denen der Regen niederrann. Draußen standen die Bäume, die Blumen still, mit ergebungsvoll gesenkten Häuptern, wie gebadet in Thränen.
Lange starrte das junge Mädchen hinaus, endlich wandte sie sich mit einer müden Bewegung ab; dabei fiel ihr Blick zufällig auf Thekla, und sie sah, daß diese weinte!
Das hatte Annie noch nie gesehen bei der älteren, so ungewöhnlich selbstbeherrschten Schwester, die alle „Empfindsamkeit“ so herbe verspottete. Es mußte sie etwas hart angefaßt haben, daß ihr die Thränen kamen, – und diese Thränen hatte sie verschuldet, sie, Annie, mit ihren harten, herzlosen Worten! –
Und beim Anblick des Leidensgesichts, das von lebenslangen Qualen sprach, und der lautlos geweinten Thränen, die um Annies willen flossen, schmolz auch die Rinde um das junge Menschenherz, das seinen ersten großen Schmerz erfahren hatte, und Annie schluchzte auf: „Thea – ach, Thea, verzeih’ mir! Weine nicht! Ich bin schlecht gewesen, aber ich bin so unglücklich!“ Und sie weinte, als sollte ihr das Herz brechen! – –
Der Herbst war dahin und ein rauher, stürmischer, böser Herbst war’s gewesen, der dem lachenden Sommer gefolgt war … jetzt zog der Winter in das Land – ein weißer, lautloser Gast.
Die alten Leute in F. sagten es immer wieder, sie könnten sich keines ähnlichen Winters entsinnen – es schneite und schneite ohne Unterlaß, sacht und still, vom Morgen bis zum Abend, und wenn die Arbeiter sich tagüber müde geschaufelt und die Straßen einigermaßen frei gemacht hatten, dann schneite es leise und unaufhaltsam über Nacht weiter, und die Mühe begann von neuem. An den Häusern thürmten sich die Schneewälle immer höher empor, obgleich lange Wagenreihen ununterbrochen hin- und herfuhren, die Schneemassen fortzuschaffen. Wind gab es keinen; die Flocken schwebten so ruhig vom gleichmäßig grau in grau getönten Himmel herab, als sollte das so fortgehen bis ans Ende aller Tage. Die Leute, die im Erdgeschoß wohnten, sahen nichts als Schneeberge vor sich, die täglich anwuchsen; man fragte einander umsonst, wo das eigentlich hinauswollte, und nur die Kinder waren vergnügt, schrieen, lachten und schneeballten und versanken oft bis an die Brust in den leuchtend weißen lockern Massen.
Trotz des Schnees begann man dennoch, Gesellschaften zu geben. Die bekannten gastfreien Häuser thaten ihre Pforten auf – Diners, Soupers, große Routs, musikalische Abendunterhaltungen, Bälle – jeder Tag hatte ein anderes vergnügtes Gesicht. Die jungen Damen hatten sich nun in die Ulanen gefunden und die Dragoner fast ganz vergessen – nun, die Ulanen waren in der That entzückend, und einer von ihnen, dieser prachtvolle Lieutenant von Conventius, hatte inzwischen seine blonde Hedwig heimgeführt und machte ein famoses Haus; auch Thor von Hammerstein, Parsifal genannt, hatte sich verlobt, und zwar mit Hertha Kreutzer, die kein Hehl daraus machte, daß sie eigentlich lieber einen andern gehabt hätte (ebenso, wie ihr Verlobter lieber eine andere gehabt hätte, setzten die boshaften „Freundinnen“ in der Stille dazu!), indessen es ginge nicht immer im Leben so, wie man wolle, und ihr Erwählter war sehr verliebt und sehr wohlhabend, und vor Herthas erfreuten Blicken gaukelten die schönsten Zukunftsträume von kostbaren Toiletten und endlosem Vergnügen.
Aber – aber! Es gab viele Unzufriedene in diesem schneereichen Winter! Zumeist waren sie männlichen Geschlechtes – doch liefen auch viele weibliche mit unter. Der „Stern“ der drei letzten Saisons, die Perle unter den jungen Damen, Annie Gerold,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 878. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_878.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)