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Seite:Die Gartenlaube (1890) 879.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

fehlte – saß ruhig daheim bei ihrer kranken Schwester und studirte und nähte und strickte für die Armen und zeigte ihr liebliches Gesichtchen selten bei ihren Freunden, selten auch auf der Straße, denn sie erging sich am liebsten in ihrem Garten, in welchem sie stundenlang auf und ab wandern konnte, mit ernsten, dunkeln, schwermüthigen Augen vor sich hinsehend.

Niemand wußte recht zu sagen, weshalb Annies Verlobung aufgelöst worden sei und wer von den beiden, die ein so überglückliches Paar geschienen hatten, sie gelöst haben könnte! Annie hatte zu Hedwig Weyland nur gesagt. „Es ist alles zu Ende! Frag’ mich nicht, wenn Du mich lieb hast!“ Nun, Frau Hedwig hatte sie lieb und triumphierte gar nicht, daß ihre Ahnungen wieder einmal eingetroffen waren – sie fragte wirklich niemals, kam aber sehr oft, Annie zu besuchen, und weinte im stillen manche Thräne um das zerschlagene Lebensglück ihres Lieblings. Durch sie hatte sich das Gerücht verbreitet, Delmont sei unheilbar krank gewesen und habe es darum nicht über sich gewonnen, Annies Leben an das seine zu ketten. Man fand es sehr unrecht von ihm, daß er sich, wenn er seinen hoffnungslosen Zustand kannte, überhaupt mit Annie verlobt habe – aber man bemitleidete das junge Mädchen allgemein und verschonte es mit lästigen Fragen.

Das letztere war es, was Frau Weyland gewollt hatte. Diese und die kleine Frau von Conventius besuchten Annie am häufigsten, ohne auf Gegenbesuche zu rechnen, ohne überhaupt von ihr irgend etwas zu verlangen. Sie thaten das, was echte Freundinnen immer thun sollten; sie gaben, ohne je zu fragen: wann bekomme ich etwas wieder? –

Die Herren also waren entrüstet, daß ihnen eine Tänzerin und Gesellschafterin wie Annie Gerold fehlte, und mancher kräftige Fluch über den „verdammten Kerl, den Maler“, kam von den bärtigen Lippen der Ulanenoffiziere, nicht zum wenigsten von denen des Lieutenants von Conventius, der an Delmonts unheilbare Krankheit durchaus nicht glauben wollte. „Der Mensch sah so gesund aus wie ich und Du!“ pflegte er zu seiner rosigen kleinen Frau zu sagen. „Und wenn ich an sein Gesicht und an das von Regi denke, damals im Münchener Biergarten – und ich denke oft daran! – dann könnte ich meinen Kopf drum wetten, daß hier ein Geheimniß sitzt – nur daß ich nicht sagen kann, wo! Und Du kannst’s auch nicht, Mäuschen – was?“

Nein – Mäuschen konnte es auch nicht! – –

Unter den Damen gab es ebenfalls zahlreiche mißvergnügte Elemente. Man ging so fleißig zur Kirche und erbaute sich wirklich an den guten Predigten und sammelte für die Armen eines ganz besondern Sprengels und trug dem Geistlichen dieses Sprengels namhafte Summen ins Haus und hatte keine Annie Gerold mehr zu fürchten, die besagter Geistlicher früher offenbar ausgezeichnet hatte, die er aber jetzt nie mehr wiedersah … und trotz alledem blieb dieser wunderliche Heilige, der Pfarrer von Sankt Lukas, wie von Stein! Er nahm sehr selten eine Einladung an, schaute ungerührt in all’ die fromm aufgeschlagenen, thränenfeuchten Augen und bewegten Mienen, hörte all’ die Bekenntnisse und Aengste schöner Seelen ruhig mit an und tröstete sie auf die unpersönlichste Art und Weise, die sich denken ließ – hielt die hilfbereiten zarten Händchen nicht eine Sekunde länger fest, als die nothwendigste Höflichkeit erheischte, und strich die Summen für die hungernde Armuth dankend ein, ohne anscheinend zu ahnen, daß die edlen Spenderinnen hierbei noch einen profanen Nebengedanken haben könnten!

Dabei verschönte sich der Mann von Mal zu Mal, und seine Reden wurden immer inniger und tiefer, so daß die Gläubigen Sturm liefen zur St. Lukaskirche. Offenbar glaubte Pfarrer von Conventius jedes Wort, das er sagte, – und schon diese Thatsache allein, abgesehen von seinem Aeußern, seiner Herkunft und seinem gewinnenden Wesen, eroberte ihm viele Herzen, denn das fühlt die Menge von selbst, wenn ein Geistlicher aus der Tiefe seiner Ueberzeugung redet.

Langsam, langsam ging der Winter hin, und nicht wie im Jahr zuvor kam der Frühling schon im März – er ließ diesmal auf sich warten, er ließ sich bitten und herbeisehnen von aller Welt und kämpfte sich endlich verstohlen zwischen allem Schneewirbel und Nebelgewölk hindurch – Gottlob, nun war er da!!

Und als es Frühling geworden war, ging Annie Gerold mit dem Weylandschen Ehepaar nach Italien.

Den ganzen Winter hindurch hatte Thekla die junge Schwester zu überreden gesucht: „Thu’ es!“ Und immer hatte Annie geantwortet: „Laß’ mich doch hier. Ich möchte bei Dir bleiben!“ Aber Thekla dachte an das Sprichwort vom steten Tropfen, der den Stein höhlt, und sie kam beharrlich wieder mit ihrem Vorschlag, den Frau Weyland mit eifrigen Bitten unterstützte, bis Annie endlich mit einem etwas ungeduldigen: „In Gottes Namen denn – ja!“ ihre Einwilligung gab.

Die Reisevorbereitungen waren getroffen, die Koffer gepackt, die Abschiedsbesuche erledigt, morgen früh sollte es fortgehen. In ihrem gemüthlichen Wohnzimmer saßen die Schwestern abends bei der Lampe zusammen. Thekla hielt ihren geliebten Fichte in der Hand und las Annie daraus vor.

„Hieraus ersiehst Du,“ sagte sie und ließ das Buch sinken, „was Fichte mit seiner Lehre des welterschaffenden und weltbeherrschenden Ichs meint: die innere Kraft des strebenden Ichs sei die Einbildungskraft, und von der schöpferischen Einbildungskraft gehe die ganze Wirksamkeit des Menschengeistes aus!“

„Wer nun aber über keine schöpferische Einbildungskraft verfügt?“ warf Annie ein.

„Der kann auch nicht wirksam sein!“ lautete Theklas Antwort.

„Wie zum Beispiel ich! Ich komme mir in meinem Innern so alt und zerbrochen vor – wo sollte ich wohl jetzt und jemals überhaupt schöpferische Einbildungskraft hernehmen?“

„Die hast Du stets in Dir gehabt, mein Vögelchen, obgleich Du nie Lieder komponirt, Statuen gemeißelt oder Dramen geschrieben hast – schöpferische Einbildungskraft steckt eben in jedem mit Phantasie begabten Menschen, und reicher ist selten jemand an Phantasie gewesen als gerade Du. Auch jetzt ist diese Schöpferkraft keineswegs todt in Dir, wie Du annimmst, nur matt und unlustig – sie wähnt sich vernichtet, ist es aber nicht – und wenn sie allgemach zu erwachen, ihre Flügel zu regen beginnt, so wirst Du zuerst erstaunt sein, dann unwillig, wie das möglich sei, Du wirst Dich dagegen wehren … aber, Liebling, Du wirst es nicht hindern können!“

„Meinst Du, Thea?“ fragte Annie gedankenvoll. „Du hast so oft recht in dem, was Du sagst, und Du kennst mich besser als irgend jemand, vielleicht besser, als ich mich selbst kenne … aber ich weiß nicht, ob Dein Scharfblick Dich nicht diesmal doch täuscht. Wäre mir mein Liebster gestorben, dann wäre es doch anders – der Tod ist der unerbittlichste Abschluß von allem, was Hoffnung und Sehnsucht heißt. Ich aber – ich hoffe freilich nichts mehr, ich weiß es ja genau, es ist vorbei für immer … aber oft habe ich das Gefühl, als müßte mich die Sehnsucht tödten!“

Mit einem Gefühl heißen Schreckens blickte Thekla in Annies Antlitz. Das junge Wesen hatte sich so tapfer beherrscht, war äußerlich so unverändert, daß die ältere Schwester schon heimlich den segensreichen Einfluß der mächtigen Bundesgenossin, der Zeit, zu spüren gemeint hatte. Irrthum! Und Thekla mußte Annie recht geben: die Beendigung ihres Liebesglücks hatte etwas Gewaltsames, Unnatürliches gehabt; alles war zu Ende, aber es hatte kein erlösender Accord dabei mitgeklungen, mit einer schrillen Dissonanz war es vorbei gewesen. Einen Todten kann man heiß beweinen, man soll ihm alles verzeihen; in dem Schmerz um einen lebendig Todten kann die trauernde Seele keine Ruhe finden! –

Die Reise – die Reise! Andere Menschen – täglich wechselnde Bilder, herrliche Kunstschätze, überschwänglich schöne Naturgenüsse – dazu Annies empfängliche Seele, ihre lebhafte, rasche Auffassung … Tausenden ist schon auf diese Weise das wunde Herz geheilt worden. Tausenden wird es noch geheilt werden. Thekla hielt Annies Hand, die schöne Hand, die Karl Delmont so zahllose Male geküßt und bewundert hatte, still in ihren beiden Händen und sah liebevoll in das liebliche Gesicht mit den großen, sehnsüchtigen Augen. – – – –

*      *      *

Etwa acht Wochen später war’s und in Bellaggio am Comersee. Dorthin war das Weylandsche Ehepaar mit Annie Gerold vor der Hitze, die in Italien zu herrschen begann, geflüchtet, und nun sahen sie von dem Balkon ihres herrlich gelegenen Hotels einen Sonnenuntergang mit an, der die Berge in Feuerflammen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 879. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_879.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)
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