Verschiedene: Die Gartenlaube (1890) | |
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badete und den Spiegel des herrlichen Sees in ein Goldmeer verwandelte.
In Annies Augen schwamm ein träumerischer Glanz, wie ihn Hedwig Weyland, die fein beobachtende Freundin, gar nicht liebte. Wenn Annie so aussah wie jetzt, dann gingen ihre Gedanken verbotene Wege, das war sicher, – und sie war in der letzten Zeit so heiter und vergnügt gewesen, daß das Ehepaar sich miteinander von Herzen dessen gefreut hatte. Sie sagte nicht mehr zu allem „Ja“, was man ihr vorschlug, sie fand nicht alles gut und schön, wie Weylands es wollten, – sie hatte ihre eigenen Ideen, dachte sich dies und jenes aus und zeigte deutlich, daß sie wieder einen Willen besaß … ein überaus günstiges Zeichen, wie Frau Hedwig immer wieder gegen ihren Robert betonte.
Jetzt aber dieser weltentrückte Blick, – es wurde Frau Weyland eigenthümlich beklommen ums Herz. Doch nicht wieder Ahnungen? Ums Himmelswillen! Daß nur Robert nichts merkte! Sie sah ihn heimlich von der Seite an: nein, er merkte gar nichts, er zog seine Uhr und wunderte sich, warum der Kellner die Zeitungen nicht bringe, die Post müsse doch längst angekommen sein!
Nach einer kleinen Weile trat der Erwartete durch die Glasthür und legte ein ganzes Packet des gewünschten Lesestoffs vor Herrn Weyland hin, deutsche, französische, italienische Blätter, alles durcheinander.
„Bitte, meine Damen!“ Weyland hielt seiner Gattin und Annie die Zeitungen zur Auswahl hin.
„Wie galant er sich anstellt!“ lachte Hedwig. „Als wenn wir nicht genau wüßten, daß er die deutschen Blätter für sich beansprucht und stillschweigend voraussetzt, wir würden, mit Rücksicht auf ihn, die ausländischen für uns nehmen nicht wahr, Annie?“
„Es ist ein feines Kompliment für Euch darin enthalten,“ behauptete Herr Weyland mit großem Ernst, indem er ohne weiteres die „Allgemeine Zeitung“ auseinanderfaltete – „Ihr seid als kluge und gebildete Damen der verschiedensten Idiome mächtig, ich gewöhnliche Kaufmannsseele aber verstehe nur das mütterliche Deutsch, allenfalls noch englisch – weiter schreibt Paulus nichts!“
Damit vertiefte er sich in sein Blatt, um, nach einigen Minuten schon, eine seltsame Unruhe blicken zu lassen. Er sah sichtlich betroffen aus, räusperte sich leicht, starrte beharrlich seine Frau an, um ihren Blick auf sich zu lenken, rückte mit dem Stuhl hin und her, knisterte mit der Zeitung, – umsonst! Hedwig war ganz vertieft in ihre Lektüre, Annie gleichfalls – nun, das traf sich günstig, aber seine Frau! Sie wollte ja immer so feinfühlend und ahnungsvoll sein – warum war sie es denn in diesem Augenblick nicht, da die Gelegenheit es so gebieterisch erforderte?
Endlich hatte Herr Weyland unter dem Tisch den Fuß seiner Frau gefunden, und er trat ihr heimlich darauf, so daß sie sich umwandte und ihn ansah. Endlich! Er winkte mit den Augen nach Annie hinüber und schob der Gattin möglichst unauffällig die Zeitung hin – sie sollte lesen.
Es dauerte eine Weile, ehe Frau Weyland das fand, was ihres Mannes Aufmerksamkeit erregt hatte. Endlich traf ihr Blick darauf – eine Notiz unter „Verschiedenes“ war’s:
„In Calcutta ist am achtzehnten Juni, kurz nach seiner Ankunft, der berühmte Porträt- und Landschaftsmaler Karl Delmont am gelben Fieber gestorben.“
In Hedwigs Hand bebte das Blatt und sie warf einen besorgten Seitenblick auf Annie, die sich in den französischen „Moniteur“ vertieft hatte. Wie, wenn jene Nachricht auch in diesem Blatt zu lesen stand, wie es die größte Wahrscheinlichkeit war?
Die beiden Gatten wußten nichts besseres, als einander sorgenvoll anzusehen – verstohlen natürlich, damit Annie es nicht merke. Sie wußten beide nicht, was sie thun sollten – wenn Annie nun auch in ihrem Blatt die Nachricht fand … was würde werden? Und wenn sie dieselbe nicht fand … waren in dem Fall nicht sie, Weylands, verpflichtet, ihr die Trauerbotschaft mitzutheilen? –
Auf dem Balkon, der ihnen zunächst lag – das große Hotel besaß deren mehrere – ging es lebhaft und lustig her. Man unterschied deutlich die verschiedenen Stimmen – helle, hohe Kinderlaute, dazwischen einen väterlichen Baß und ein weiches, verschleiertes Frauenorgan, abwechselnd mit einer sonoren Männerstimme – die beiden letzten sicher einem Brautpaar zugehörig, denn der tiefe Baß warnte ein paarmal nachdrücklich: „Alfred, verwöhnen Sie uns das Kind nicht so sehr!“ Dann bewunderte wieder jemand den herrlichen Sonnenuntergang, und ein Plan zu einem gemeinsamen Ausflug für den nächsten Tag wurde besprochen; die Kinder jubelten laut darüber und versprachen, sehr artig zu sein, wenn man sie mitnehme. Frau Hedwig hörte mit halbem Ohr hinüber, ohne einen Augenblick den Gedanken an ihre junge Freundin aufzugeben.
Plötzlich bemerkte sie, wie das Zeitungsblatt in Annies Hand seltsam raschelte und bebte – sie bog sich ein wenig vor: Annie starrte mit weitoffenen Augen in das Blatt, als ob sie ihren Sinnen nicht traue, dann ließ sie es langsam sinken, und Frau Hedwig sprang auf und legte den Arm um sie.
Aber Annie war zu jung und zu gesund, um ohnmächtig zu werden. Sie blieb bei wachen Sinnen, sah das Abendgold auf den Bergen verglühen und im Wasser zittern, gewahrte die besorgten Gesichter ihrer Freunde, wie sie sich über sie neigten, und hörte deutlich den Ton einer Zither, die drunten im Hotelgarten jemand sehr kunstfertig zu spielen begann. Eine wehmüthig süße, einfache Volksmelodie war’s, und der rührende Ton der Zither machte, daß es wie das Schluchzen eines zum Tode betrübten Menschen klang.
„Annie – liebes, liebes Herz – Du hast gelesen –“
Sie nickte nur und blieb stumm und regungslos sitzen wie zuvor.
Auch die Freunde schwiegen – was hätten sie sagen sollen? –
Nebenbei auf dem Balkon war alles still – sie hörten der Zither zu, die ihr trauriges Lied zu Ende klagte. Als der letzte Ton verhallt war, da war auch die Farbenpracht am Himmel und im See dahin – hier wie dort schwamm nur noch ein sanfter, rosiger Abglanz der verschwundenen Herrlichkeit. Und durch die tiefe Stille hörte man deutlich eine Stimme von drüben her sagen: „Heut’ haben wir Sonnenwende!“ –
„Es ist nicht wahr, daß man im späten Alter keine festen, dauernden Freundschaften mehr schließt, es kommt hier wie überall auf die Persönlichkeiten an. Alte Freunde können uns oft, wenn seltsame, ungewöhnliche Verhältnisse an sie herantreten, ganz fremd erscheinen – und neue Freunde werden uns zuweilen so rasch vertraut, daß wir immer wieder verwundert nachsinnen müssen, ob es wirklich erst eine so kurze Spanne Zeit her ist, seit wir sie kennen!“
Thekla Gerold war’s, die diese Behauptungen aufstellte, und sie that dies offenbar viel weniger darum, um demjenigen, der ihr zuhörte und auf den sich ihr ganzer Ausspruch bezog, eine Freude zu bereiten, als um sich selbst ihre Idee klarzulegen – „laut vorzudemonstriren“, wie sie das nannte.
Der ihr gegenübersaß und dem dies Bekenntniß galt, war Reginald von Conventius, der Pfarrer von Sankt Lukas.
Es war ein der Dauer nach kurzes, aber sehr festes, inniges Freundschaftsband, das diese beiden Menschen vereinigte. Als Annie mit Weylands abgereist war, da hörte Reginald durch seinen Vetter Fritz, wie einsam Thekla jetzt sei. Zwei alte, erprobte Freunde ihres verstorbenen Vaters, die sie sehr lieb hatte und die viel um sie gewesen waren, hatte der Tod im letzten Winter abgerufen, ein dritter war von F. fort zu seinen verheiratheten Kindern gezogen, ein vierter bettlägerig krank! diese vier alten Freunde einer schönen, vergangenen Zeit entbehrte sie schwer – Fritz von Conventius mit seiner jungen Frau zeigte sich wohl dann und wann bei Thekla, aber dies lebenslustige Paar war sehr begehrt, seine Zeit immer knapp, und die vielen andern Besucher des Geroldschen Hauses waren alle nur Annies wegen gekommen; sie begnügten sich, Thekla einen Pflichtbesuch abzustatten, und das war alles.
Bücher sind eine gute Gesellschaft, und die „gelehrte Thekla Gerold“ war die letzte, die das jemals unterschätzte – aber nur auf Bücher angewiesen sein, wenn man noch ein Herz hat, vollends ein solches, das durch eine junge, liebreizende Schwester gehörig verwöhnt war, ist doch nur ein einseitiger Genuß, und so fand Fritz denn, als er die kranke Dame wieder einmal
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 880. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_880.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)