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Seite:Die Gartenlaube (1891) 006.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

braunen Augen dem Beschauer entgegen. Mit dem braunen Haar, dem müden Lächeln um den Mund, der viel zu üppig geformt war für das schmale, krankhaft blasse Antlitz, ähnelte sie einer Makartschen Schöpfung.

Ein zufriedenes Lächeln glitt über das brünette Gesicht des Malers, dem ein wohlgepflegter Schnurrbart etwas soldatenhaft Flottes verlieh. Er erhob sich, schritt zu dem Nordfenster hinüber und trat vor die Staffelei, auf welcher das Bild der schönen Baronin stand. Dort tauchte er den Finger in eine Glasschale, die mit Wasser angefüllt auf einem Tischchen stand, und strich damit über das Haar, das unter dem Perlenrand des Stuarthäubchens hervorquoll. Die goldigen Reflexe in den kastanienbraunen Wellen traten jetzt noch deutlicher hervor, und ein Ausdruck der Befriedigung erhellte sein Gesicht. Er nickte dem schönen Frauenantlitz zu, trat zum Fenster, öffnete und rief hinunter: „Den Wagen in zehn Minuten!“ Dann verschwand er in einem Nebenzimmer und vertauschte in wenigen Augenblicken das braune Sammetjackett mit einem feinen Promenadenanzug, fragte den Diener, ob die gnädige Frau in ihrem Zimmer sei, und als dieser antwortete, er glaube, daß Frau Jussnitz sich im Souterrain befinde, zog er einen Augenblick die Stirn in verdrießliche Falten und befahl, der Gnädigen zu sagen, daß er zum Abend nicht daheim sein werde. Eine brennende Cigarette zwischen den Fingern, stieg er eilig die Treppe hinunter; um keinen Preis hätte er die Wirthschaftsräume betreten.

Im Flur, vor einem riesenhaften alterthümlichen Wäscheschrank, dicht hinter der breiten Treppe, stand eine junge Frau; sie trug ein schlichtes schwarzes Seidenkleid, darüber ein sehr kostbares Fichu von alten schönen Spitzen, auf die Art geknüpft, wie es einst die schöne Königin Marie Antoinette liebte. Am Arme hing ihr ein Schlüsselkörbchen und ihre Hände schienen planlos zwischen den Leinenschätzen zu tasten, denn sie schob und zerrte die mit peinlicher Sorgfalt geordneten Packete hin und her, ohne etwas herauszunehmen. Jetzt wandte sich dem Hausherrn ein junges blasses Antlitz zu, und ein Paar wunderbar klarer grünlicher Augen sah angstvoll fragend zu ihm hinüber.

„Leo,“ scholl es leise hinter ihm, „Leo, willst Du ausfahren?“ Er wandte sich rasch um. „Wie Du siehst, Antje,“ sagte er mit der Miene eines Menschen, der ärgerlich ist, aufgehalten zu werden.

Das bleiche Frauengesicht röthete sich bis unter das goldige zitternde Stirnhaar. „Heute, Leo?“

„Allerdings! Oder hattest Du andere Wünsche?“ Es klang sehr kühl und sehr ungeduldig.

Sie lehnte am geschnitzten Schrank und wand die zierlichen blauen Bänder, welche die blendende Wäsche zusammenhielten, verlegen zwischen den Fingern. Das zarte Rosa ihres Gesichtes hatte sich zu einer wahren Purpurröthe gesteigert.

„Ich dachte, Leo,“ begann sie, hielt aber inne vor dem Blick, der sie traf.

„Du wünschest, daß ich hier bleibe, Antje? Das hättest Du früher sagen sollen, ich würde dann abtelegraphirt haben. Jetzt ist es zu spät, ich werde erwartet.“

„Du wirst erwartet, Leo? Das ist etwas anderes!“ sagte sie. Es lag eine merkliche Veränderung in ihrer Stimme, so wie jemand redet, der heftige Schmerzen leidet. Ihm entging es wohl, denn er fragte: „Hast Du etwas zu besorgen in Dresden, Antje?“

„Nichts, Leo –“.

„Dann guten Abend!“ Er hatte ihre Hand flüchtig an die Lippen gedrückt und war gegangen.

„Diese verdammte Gelassenheit!“ flüsterte er beim Einsteigen; „wenn diese Frau auch nur einmal bitten wollte, einmal trotzen – immer und ewig dasselbe Einerlei; selbst ihre Art, eifersüchtig zu werden, ist von ausgesuchtester Langweiligkeit. Der Wäscheschrank und die Küche sind ihr A und O.“

Er sah im Fortfahren unwillkürlich hinauf zu ein paar Fenstern im ersten Stock; dort preßte sich ein Kindesgesicht, von blondem Haar umrahmt, an die Scheiben. Er warf eine Kußhand hinauf, aber die Kleine rührte sich nicht, auch nicht ein Zug des Erkennens glitt über die weichen Züge.

„Die ganze Mutter!“ murmelte er und fuhr in den rothdämmernden Herbstabend hinaus. „Die ganze Mutter!“

(Fortsetzung folgt.)




Unschuldig verurtheilt!

Beiträge zur Geschichte des menschlichen Irrthums. 0 Neue Folge.
Seltsame Verkettungen und Lösungen des Zufalls. – Der Prozeß des Fräulein Schimmel. – Irrungen der Wiedererkennungszeugen. – Opfer falscher Anzeige.

Als wir im vorigen Jahrgang das Kapitel von den Verurtheilungen Unschuldiger, welches die „Gartenlaube“ bereits mehrfach beschäftigt hat, wieder aufnahmen, konnten wir der Hoffnung Ausdruck geben, daß die Entschädigung solcher Opfer der irrenden Justiz bald eine gesetzliche Regelung erfahren werde. Diese Aussicht hat sich inzwischen durch die Wiedereinbringung eines dahinzielenden Antrags im Deutschen Reichstage verstärkt, und es könnte uns keine größere Freude bereitet werden, als wenn das erstrebte Ziel thatsächlich erreicht würde. In Erwartung dessen fahren wir mit unseren Veröffentlichungen einzelner besonders lehrreicher Fälle von Verurtheilungen Unschuldiger fort.

Ein bezeichnendes Beispiel, wie durch eine seltsame Verkettung zufälliger Umstände der Verdacht eines verübten Verbrechens mit scheinbar zweifelloser Gewißheit begründet und durch dieselbe Verkettung des Zufalls gleichzeitig wieder beseitigt wurde, ist das folgende.

Der Pfarrer von Wegby in England hatte im Jahre 1861 während einer längeren Abwesenheit vom Orte die Frau seines Küsters, Martha Smith, als Hüterin des Pfarrhauses bestellt. Sie schlief allein in dem geräumigen Hause. Als der Küster eines Morgens in gewohnter Weise seine Frau dort abholen wollte, fand er sie – es war an einem Montag – als Leiche am Boden liegen. Ihre Hände und Füße waren mit hanfenen Stricken zusammengebunden, ein Tuch ihr übers Gesicht gezogen, ein Strumpf ihr in den Hals gesteckt; ein Knüttel von Buchenholz lag im Zimmer. Nahe an der Schulter fand man ein mit Bindfaden geschnürtes Packet, welches verschiedene Papiere in deutscher Sprache enthielt, darunter ein Dienstbuch für „Karl Kranz in Schandau“ mit der üblichen Personalbeschreibung, einen Brief ohne Adresse mit der Unterschrift „Adolf Mohn“, ein an eine Dame gerichtetes Unterstützungsgesuch und den Empfehlungsbrief einer deutschen Opernsängerin in London, am Tage vor dem Morde geschrieben. Bald darauf wurde in London ein deutscher Handwerksbursche Namens Karl Kranz einer unerheblichen Uebertretung wegen festgenommen. Die Beschreibung im Dienstbuche paßte genau auf ihn. Eine Handelsfrau, die Witwe Blout, beschwor, daß sie am Sonntage früh Hanftau an zwei Ausländer verkauft habe, deren einer dem Kranz geglichen habe. Auch ihre Magd bestätigte dies. Der buchene Knüttel aber paßte genau zu einem abgebrochenen Baumaste in einem nahe bei dem Thatorte gelegenen Dickichte, in welchem ein Zeuge am Sonntag ebenfalls zwei unbekannte Bursche hatte vorbeigehen sehen, von denen der eine dem Kranz ähnelte. Beim Durchsuchen der Wohnung des Kranz in London endlich fand man, daß ein demselben gehörendes Hemd mit einem hanfenen Stricke zusammengebunden war von gleicher Beschaffenheit wie die Stricke, mit denen die Ermordete gebunden war, und der auch zu dem Ballen paßte, von dem die Frau Blout für den Fremden abgeschnitten hatte. Es war nämlich ein Gespinst von ganz besonderer Art. Bei einer solchen Häufung von Verdachtsgründen konnte kaum noch ein Zweifel bestehen, daß Kranz der Mörder der Küstersfrau sei.

Und nun die Lösung!

Karl Kranz war im Frühjahr 1861 nach England ausgewandert. Nachdem er in Hull gelandet war, nahm er zu Fuß den Weg nach London. Unterwegs begegnete er zwei Landsleuten, den Matrosen Adolf Mohn und Wilhelm Gerstenberg. Der letztere besaß keine Papiere und drang daher fortwährend in Kranz, daß er ihm sein Dienstbuch überlassen solle, was Kranz indeß ablehnte. Als aber die drei miteinander im Freien übernachteten waren am Morgen die beiden Matrosen verschwunden, zugleich mit ihnen das Kranzsche Dienstbuch und ein Packet, in dem sich ein zweiter Anzug befand, der genau so beschaffen war wie der, den Kranz bereits trug.

Damit war erklärt, wie der Mörder der Frau Smith in den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1891). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1891, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_006.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2023)
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