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Seite:Die Gartenlaube (1891) 056.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)


Mittagsstunde vorüber war, gerieth sie in ihre alte fieberhafte Unruhe; sie aß keinen Bissen und ging in Tante Pollys guter Stube auf und nieder wie eine gefangene Löwin. Wenn er sein Versprechen nicht hielt, was sollte aus ihr werden? Daran, daß sie hierher gekommen war, um allein ihren Weg zu finden, dachte sie nicht mehr; sie betrachtete ihr Lebensschifflein als gescheitert, wenn er fortblieb.

Und er kam nicht. Es ward dunkel, Hilde konnte nichts mehr erkennen auf der Straße. Sie stellte sich auf den Flur an das Treppengeländer und horchte auf den Ton der Klingel. Einmal meinte sie, er müsse es sein, es kam jemand in das Haus – ihr Herz ging in mächtigen vollen Schlägen und ihre Glieder zitterten, aber es war nur der Briefbote, der ein Schreiben von daheim brachte. Sie steckte es in die Kleidertasche und wartete weiter. Er kam nicht.

Zum Abend schüttelte sie ein leichter Frost, dem glühende Hitze folgte. Tante Polly sah, daß das Mädchen kaum noch im stande war, sich aufrecht zu halten; tiefe Schatten lagen unter ihren Augen und das Gesicht erschien ganz verändert.

„Um Gotteswillen, geh’ zu Bett, Kind! Werde nur nicht krank!“ Und sie brachte selbst das Mädchen in ihr kleines Kämmerchen. „Schlaf, schlaf!“ sprach sie ihr zu, „Dir hat die frische Luft gefehlt; warum wolltest Du auch nicht ausgehen in der ganzen Zeit? Es kann doch nicht gesund sein, immer zu malen!“

„Ja, ich bin müde!“ stieß das Mädchen hervor. Und als die kleine Frau gegangen war, da wühlte sie den Kopf in die Kissen und stöhnte wie zum Tode getroffen. Der Mann hatte sie einfach zum besten gehabt oder sie längst vergessen, während sie an nichts anderes gedacht hatte als an ihn. Sie ballte die Hände vor Zorn und überlegte, wie sie sich rächen wollte, wenn sie ihn einmal treffen würde. – Sie verstand es in diesem Augenblick ganz gut, daß es Frauennaturen giebt, die einen Ungetreuen zu erdolchen imstande sind. – Sie schlief auch diese Nacht nicht, und am andern Morgen fand sie kaum die Kraft, sich zu erheben; aber die Hoffnung, er könnte doch heute noch kommen, verlieh ihr wieder Muth.

Sie las heute auch den Brief von zu Hause, er war von ihrer Mutter. Die Zeilen flossen über von mütterlicher Zärtlichkeit und Sorge, aber es lag doch etwas Gekränktsein darin. „Als ich Deine Abschiedsworte auf dem Küchentisch fand, Hilde, da hab’ ich recht weinen müssen,“ hieß es, „ich dachte, wenn Du Deine Mutter ein ‚bißchen‘ lieb gehabt hättest, wärst Du nicht ohne Abschied gegangen. Möchten doch nur Deine goldenen Träume zur Wirklichkeit werden, gutes Kind, und Dir alle Enttäuschungen erspart bleiben!“

Hilden drängten sich die Thränen in die Augen; aber zornig wischte sie dieselben hinweg. Wenn die Mutter ahnte, welche Enttäuschung ihr „gutes Kind“ bereits getroffen hatte! Aber das durfte sie nicht erfahren, sie nicht und niemand auf der Welt! Und Hilde nahm wieder ihren Platz ein vor ihrer Malerei und blickte auf die Straße. Die Tante verlangte, sie solle ausgehen, aber sie weigerte sich heftig. Sie wartete. Und als abermals die Dämmerung niedersank, da sprang sie plötzlich wie elektrisirt vom Stuhle auf und sank dann wie ohnmächtig wieder zurück – auf dem Flur fragte eine Männerstimme nach Fräulein von Zweidorf.

Sie hatte die Klingel nicht gehört, hatte ihn nicht kommen sehen – nun war er da und Tante Polly führte ihn herein. Die alte Dame hatte es eilig, die Lampe zu holen, um ihren Gast zu beleuchten; sie fand ihn vor Hilde stehend, die noch immer auf ihrem Platze saß, blaß wie der Tod.

Leo Jussnitz war ungemein liebenswürdig zu Tante Polly; er erzählte von den früheren freundnachbarlichen Beziehungen zur Familie Zweidorf; wie er sich glücklich schätze, Fräulein Hilde hier nützlich sein zu können, die er noch als kleines Mädchen gekannt habe, wie er sich freue, sie nun hier unter dem Schutz einer so liebenswürdigen Tante zu finden, und wie er gekommen sei, das Nähere des Unterrichts wegen zu verabreden.

Tante Polly sah ihm beständig auf seine rechte Hand, aber an dem tadellos sitzenden Handschuh zeichnete sich kein Ehering ab. Hilde sprach noch immer nicht, erst als er sich mit der Frage unmittelbar an sie wandte, ob es ihr genehm sei, morgen mit dem Unterricht zu beginnen, und ob es ihr passe, übermorgen die erste Sitzung zu gestatten, kehrte die Farbe in ihre Wangen zurück.

„Ja!“ sagte sie kurz; und sie setzte hinzu. „In welchem Kostüm wollen Sie mich malen?“

„Wie anders als mit der spanischen Mantille?“ erwiderte er und blickte sie bewundernd an, „aber Sie müssen aussehen wie heute, so blaß und so zornig und“ – so schön, wollte er sagen, verschluckte aber das letzte.

Sie antwortete nicht. Tante Polly schwieg und wagte nicht mehr, drein zu reden.

„Wo ist Ihr Atelier?“ fragte Hilde endlich.

Er nannte die Straße.

„Guter Gott!“ meinte Tante Polly, „das ist ja am Ende der Welt! Und dahin willst Du alle Tage laufen?“

„Gewiß, Tante! Und in Deiner Gesellschaft wird mir der Weg nicht lang werden,“ antwortete Hilde und zupfte an den gehäkelten Spitzen, die über das Armpolster ihres Stuhles gebreitet waren.

Jussnitz mußte lächeln, denn Tante Polly machte in diesem Augenblick ein sehr wenig gescheites Gesicht. Die gute Dame wußte nicht, ob sie sich wundern oder ärgern sollte über die Ansprüche, die man an ihre Person stellte. Wie konnte sie denn alle Tage – alle Tage –? Ach, ihre Zeit, ihre schöne Zeit! „Aber, ich bitte Dich, Kind,“ begann sie, „bedenke doch!“

„Liebe Tante,“ antwortete Hilde, ganz mit der vornehmen Miene, durch die Frau Polly Berger schon vor drei Tagen zum Schweigen gebracht worden war, „liebe Tante, bedenke Du, daß Du Dir die ungeheure Last, an einer jungen Nichte Mutterstelle zu vertreten, aufgebürdet hast, und daß Dir nun nichts weiter übrig bleibt, als diese Last geduldig zu tragen.“

Tante Pollys Gesicht wurde hiernach nicht klüger aussehend, nur färbte es sich dunkelroth vor Aerger. Das war die Strafe für ihr Mißtrauen: Hildegard verstand es, sich zu rächen.

„Alle Tage?“ stammelte sie hilflos.

„Ja!“ erwiderte Hilde kurz.

„Ich möchte das Bild zu der Berliner Ausstellung fertig haben,“ fügte Jussnitz hinzu.

„In die Ausstellung sollst Du? Was wird denn aber da Dein Vater sagen?“ Tante Polly griff nach jedem Strohhalm, um sich zu retten.

„Tante, ich bitte Dich, das verstehst Du nicht!“ rief das Mädchen erregt und ließ ihre Augen über die kleine Dame hinblitzen.

Jussnitz hielt es für angezeigt, aufzubrechen. Tante Polly trippelte hinaus, um die Flurlampe anzustecken.

„Weshalb kamen Sie gestern nicht?“ fragte Hilde leise und heftig.

Er lächelte; sie gefiel ihm so gut in ihrer zornigen Erregtheit. „Ich bekam eine wichtige Abhaltung, just als ich mich auf den Weg machen wollte.“

„Wissen Sie, was warten heißt?“ fragte sie.

„O ja! Bei Ihnen heißt es so ungefähr –“

„Krankwerden!“ unterbrach ihn Hilde kurz.

Er wußte, sie sprach die Wahrheit; ihre fieberhaften Augen erzählten es ja so deutlich.

„Leben Sie wohl, Herr Jussnitz, und Dank für die Blumen!“ setzte sie hinzu.

Er lächelte wieder. „Und wenn ich diesen Dank gar nicht verdiente?“ fragte er.

Sie stutzte einen Augenblick, dann lächelte auch sie; unbeschreiblich lieblich ward ihr eben noch so düsteres Gesichtchen.

„Bei Gott, ich weiß nicht, ob ich Sie nicht doch lieber ntit lachendem Munde malen soll!“ rief er; und als sie ihm die Hand gab, führte er dieselbe an die Lippen und flüsterte: „Auf Wiedersehen!“

Tante Polly leuchtete dem Gaste die Treppe hinunter. Als sie zurückkam, um der Nichte Vorstellungen zu machen, hatte diese das Zimmer verlassen und war in ihr Kämmerchen geflüchtet; dort gab sie ihren überreizten Nerven nach und weinte, weinte zum Herzbrechen.

Tante Polly stand draußen und forderte vergebens Einlaß; endlich ging sie kopfschüttelnd in die Wohnstube. – Himmel! was sollte das geben? Hübsch und fein ist er, und – man kann ja nicht wissen – in Liebessachen ist das Unwahrscheinlichste am glaubhaftesten. Na, sie würde es den Zweidorfs gönnen. „Ach, Polly, Polly,“ sprach sie halblaut zu sich, „Du bist schön reingefallen mit Deiner dummen Gutmüthigkeit; hoffentlich kommt die Sache bald zu einem guten Ende!“

(Fortsetzung folgt.)




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_056.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)
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