Verschiedene: Die Gartenlaube (1891) | |
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Nr. 10. | 1891. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Eine unbedeutende Frau.
Man fuhr schweigend dahin durch die endlos scheinenden stillen Gassen; dann fingen einzelne Uhren an, die zwölfte Stunde zu schlagen – der Christmorgen war angebrochen.
„Und Friede auf Erden!“ flüsterte Antje, und sie tastete heimlich nach der Hand ihres Mannes und schob ihre heißen schmalen Finger in seine Rechte. Nur ein einziger herzlicher Druck, und alles wäre gut gewesen. Aber nichts antwortete ihr. Er ließ es nur ruhig geschehen, das war alles. Langsam zog sie ihre Hand zurück.
Hildegard neben ihr rührte sich nicht, bis der Wagen vor dem kleinen Hause der Tante Polly hielt.
Eilig sprang Leo hinaus und half dem Mädchen aussteigen.
Oben war noch Licht im Wohnstübchen, und als Leo die Schelle zog, klirrte ein Fenster der guten Stube.
„Bist Du es?“ rief die vor Aufregung kaum erkennbare Stimme der Frau Berger.
„Ja, Tante!“
„So? Nun, da gehe nur wieder hin, wo Du bis jetzt gewesen bist! Mit uns zweien ist’s vorbei, und – daß Du es weißt, ein Brief an Deinen Vater ist schon unterwegs!“
„Tante!“ schrie das Mädchen entsetzt auf.
Aber droben war das Fenster zugeschlagen und die Lampe ausgelöscht worden.
Leo Jussnitz zuckte die Achseln. „Was ist da zu thun?“ sagte er, „Tante Polly ist schwer erzürnt. Steigen Sie wieder ein und kommen Sie mit nach Sibyllenburg.“
Antje hatte sich aus dem Wagenfenster gebogen. „Um Gotteswillen, was sind das für Menschen, zu denen sie gehört!“ fuhr es erschreckend durch ihr Herz; sie sah jetzt, daß das Mädchen wie verzweifelnd an der Schelle riß.
„Tante! Tante!“ scholl die bebende Stimme durch die Nacht.
„Man will sie, scheint es, nicht hinein lassen,“ sagte Maiberg ruhig.
„So geben Sie es doch auf! Meine Frau wird sich freuen, wenn Sie mit uns fahren,“ ertönte draußen die Stimme Leos, „Sie werden doch einsehen, daß wir unmöglich eine öffentliche Nachtruhestörung verursachen dürfen!“
Antje rückte schweigend auf die andere Seite des Wagens. und im nächsten Augenblick sank die zitternde Gestalt des Mädchens neben sie in die Kissen, schluchzend vor Zorn und Beschämung.
„Ihre Tante hat sich geängstigt um Sie. Das genügt bei einem Temperament wie das ihre, die Härte zu erklären,“ tröstete Jussnitz. „Ich werde ihr morgen schreiben oder selbst zu ihr gehen – vorläufig sind Sie unser Gast.“
Der Kutscher fuhr wie rasend. Es war kälter geworden und auf den Scheiben des Wagens zeigten sich leichte glitzernde Eisblumen, wenn er an einer Laterne vorüberflog.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_149.jpg&oldid=- (Version vom 6.8.2022)