Verschiedene: Die Gartenlaube (1891) | |
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Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt.
Berlins Polizeiverwaltung, ihre Eintheilung und ihr Dienst.
„Millionenstadt!“ Eine stolze Bezeichnung, die ihrer Trägerin einen eigenthümlichen, halb großartigen, halb unheimlichen Glanz verleiht. Es ist noch gar nicht so lange – etwa fünfzehn Jahre – her, daß der Deutsche seines Reiches Metropole einrücken sah in die Klasse der Millionenstädte, daß er begann, in der Großartigkeit dieses Titels sich mit zu sonnen, dessen unheimliche Seite ja dem Fernerstehenden nicht so unmittelbar ins Bewußtsein tritt.
Aber vorhanden ist sie darum nicht minder, diese unheimliche Seite, und sie verdient eine ernste Beachtung. Der Zug zur Großstadt ist eine bezeichnende Erscheinung unserer Tage, die der Freund des Volkes mit sorgendem Blicke betrachtet; denn er weiß, wie viel gute, gesunde Elemente dort verderben, zu Grunde gehen oder in ihr Gegentheil verkehrt werden. Die Beleuchtung der Nachtseiten einer Großstadt wie Berlin hat darum unseres Erachtens einen hohen volkswirthschaftlichen Werth; es ist ein bitteres Stück Kulturgeschichte, das wir unseren Lesern in der Schilderung des Verbrecher- und Vagabundenwesens von Berlin und der Mittel zu seiner Bekämpfung vorführen, ein bitteres Stück Kulturgeschichte, dessen Lehre aber klar vor Augen liegt. Wir beginnen unsere Schilderung mit einer Darstellung des bewundernswerthen Organismus der Berliner Polizei, der uns von selbst den leitenden Faden zu den verschiedenen Gegenständen unserer Betrachtung liefern wird.
Als zu Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre Berlins unerwartetes, überraschend großes Wachsthum eintrat, als sich die Stadt im jungen Glanze der Kaiserkrone in unvorhergesehener Weise nach allen Seiten hin ausdehnte und ihre Bevölkerung, die bis dahin eine ziemlich beständige, hauptsächlich berlinische, gewesen, aus den preußischen Provinzen und den deutschen Bundesstaaten wie aus fremden Ländern den weitesten Zuwachs und hierdurch die bunteste Mischung erfuhr, da vergrößerte sich auch zusehends, fast von Tag zu Tag, das Arbeitsgebiet der hauptstädtischen Polizei, und auch sie erfuhr, wie die übrigen Berliner Behörden, eine durchgreifende Umänderung und Vergrößerung, um den so plötzlich vermehrten Pflichten in jeder Hinsicht gewachsen zu sein.
Es war ein großer Wirkungskreis, der sich ihr öffnete. Denn in demselben Augenblick, wo sich die preußische Residenz in die deutsche Kaiserstadt umwandelte, strömte zugleich mit dem frischen Bevölkerungszufluß auch von überallher lichtscheues Gesindel herbei, welches in der sich so gewaltig vergrößernden Weltstadt ein ersprießliches Feld für seine dunklen Thaten zu finden hoffte. Zahlen, die wir in diesem Artikel wiederholt zur Hilfe ziehen müssen, sprechen eine eindringliche Sprache: wurden 1868 in Isolirhaft 2898 und in den Polizeigewahrsam 23446 Personen gebracht, so zählte man 1880 bereits 4087 Isolirgefangene und 35423 in den Polizeigewahrsam Eingelieferte. Daß die Polizei aber rastlos bemüht war, diesen riesig gewachsenen Prozentsatz nicht in ähnlichem Grade steigen zu lassen, sondern ihn, wenn irgend angängig, mehr und mehr herabzudrücken, und daß sie hierbei den erwünschten Erfolg erzielte, beweisen die Zahlen des Jahres 1888, in welchem 4233 Isolirgefangene und 32759 in den Polizeigewahrsam Gebrachte zu verzeichnen sind, während sich doch inzwischen die Einwohnerschaft Berlins um nahezu 360 000 Seelen vermehrt hat!
In keinem Verhältniß hierzu stand und steht die Vergrößerung der Polizeimacht. Trotzdem genügten seit langem nicht mehr die zu ihrer Verfügung stehenden Räume, welche sich sogar gesondert in mehreren, von einander getrennten Gebäuden befanden. Den eigentlichen Mittelpunkt bildete „der Molkenmarkt“, wie allgemein in Berlin das am Molkenmarkt gelegene Polizeipräsidiumsgebäude genannt wurde: ein alterthümlich ausschauendes, verwittertes, düsteres Haus oder vielmehr eine Häusergruppe, die auf eine geschichtliche Vergangenheit zurückblicken kann und manches Jahrhundert an sich hat vorüberwandeln sehen. Denn wenn „der Molkenmarkt“ auch nicht mehr den Roland, welcher einst hier auf dem ältesten Markte der Stadt als Sinnbild ihrer höheren Gerichtsbarkeit stand, erblickt hat, so wird er doch schon im sechzehnten Jahrhundert als kurfürstliches Besitzthum erwähnt, zu welcher Zeit er mehrfach hervorragenden hohen Beamten und Generalen als Wohnung gedient hat. 1791 erhielt der Magistrat Berlins das Gebäude von dem Fiskus zur
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_256.jpg&oldid=- (Version vom 31.8.2023)