Verschiedene: Die Gartenlaube (1892) | |
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Weltflüchtig.
Die Frau des Kommandanten überwachte eine Zeitlang den
Unterricht, den Bettina ihren Kindern gab, nach acht Tagen
aber sagte sie zu ihrem Manne: „Frau Monk ist nicht nur eine
ausgezeichnete Lehrerin, die genau weiß, was sie will, und die
den Lerneifer der Kinder erstaunlich anzuregen versteht, sie wirkt
auch durch ihr ganzes Wesen, durch ihre sanfte, edle Art im besten
Sinne auf den Charakter unserer Kleinen ein. Glaub’ mir, Schatz,
wenn ich in meiner Jugend eine solche Erzieherin gehabt hätte, dann
würdest Du heute eine viel bessere Frau besitzen – als Du verdienst.“
Der Kommandant lachte und nahm sich vor, Bettina das aus freien Stücken anzubieten, um was sie ihn hatte bitten wollen. Er lenkte eines Abends das Gespräch auf Ewald und dessen Zukunftspläne, und als Bettina ihm gestand, daß ihr Mann seine Fehler bereue und sich glücklich schätzen würde, wieder in das alte Dienstverhältniß eintreten zu können, nickte er ihr freundlich zu und antwortete: „Wenn Monk mit guten Vorsätzen kommt, soll er mir willkommen sein. Bitte, senden Sie ihn morgen zu mir.“
Ewald leistete dieser Aufforderung pünktlich Folge, fand seinen ehemaligen Vorgesetzten sehr wohlwollend gestimmt und nahm, nach kurzer Verständigung, mit Eifer die altgewohnte Beschäftigung wieder auf. Als drei Wochen später bei stürmischem Wetter ein hoher Regierungsbeamter die maritimen Einrichtungen an den Küstenorten besichtigte und sich einen besonders zuverlässigen Lotsen für die Fahrt erbat, gab ihm der Kommandant Ewald mit. Dieser rechtfertigte die getroffene Wahl so gut, daß ihm die Beförderung zum Oberlotsen in nahe Aussicht gestellt wurde.
Da ihm nun auch Bettina stets mit gleichmäßiger Freundlichkeit begegnete, so hätte sich Ewald der glücklichen Wendung der Dinge ungetrübt freuen können, wenn nur das Aussehen seiner Frau ihm nicht Sorgen gemacht hätte. Ihr Gesicht wurde schmal, unter den Augen zeigten sich tiefe Schatten. Auch der Frau des Kommandanten fiel diese Wandlung auf und sie bewog Ewald, den Arzt um Rath zu fragen. Dieser kam zur Klause, beobachtete die junge Frau und erkundigte sich in väterlicher Weise nach ihrem Ergehen.
„Ich bin wohlauf, lieber Doktor,“ versicherte sie lächelnd.
Der aber schüttelte den Kopf und entgegnete: „Ihr Aussehen straft Sie Lügen.“
Der theilnehmende Mann sprach wiederholt in der Klause vor, und als Ewald endlich wissen wollte, was seiner Frau fehle, sagte er offen: „Ein körperliches Leiden kann ich nicht entdecken, es muß ein tiefer Kummer auf ihr lasten und ihre Kraft verzehren. Aber darüber sollten Sie besser unterrichtet sein als ich!“
Ewald sah den Doktor mit starren Augen an und murmelte nach einer Weile: „Also das ist’s, das –“
„Beobachten Sie Ihre Frau und versuchen Sie, ihr möglichst viel Zerstreuung zu verschaffen. Ich habe so das Gefühl, als müsse die Leidende erst wieder lernen, aus vollem Herzen zu lachen bevor an Genesung zu denken ist. Ihre Arznei heißt Frohsinn, und die ist leider in keiner Apotheke zu haben.“
Ewald blieb in großer Bestürzung zurück; ihm dämmerte langsam das Bewußtsein auf, daß Bettina sich verzehren werde in dem Bestreben, ihrer Liebe zu entsagen. Er begann, sie genau zu beobachten, und erkannte, daß sie im Hause kaum einen Blick hatte für die Außenwelt. Es lag etwas Träumerisches in ihrem Wesen; wenn jemand sie plötzlich anredete, schrak sie zusammen und erst allmählich belebten sich dann ihre Augen. Abends machte sie in der Regel einen längeren Spaziergang und wählte stets den Pfad, der zum Höwt hinausführte. Ewald, der ihr in der Dämmerung wiederholt heimlich folgte, bemerkte, daß sie stundenlang bei der Buche verweilen konnte, den Blick regungslos nach dem Schlosse Lindström hinübergerichtet. Einmal hatte er sich in ihre Nähe geschlichen. Sie kauerte am Fuße des Baumstammes auf der Erde, die Hände um die Knie geschlungen, den Kopf gegen die rauhe Baumrinde gelehnt. So starrte sie hinaus ins Weite. Als sie sich endlich erhob, kam ein Laut des Schmerzes von ihren Lippen: sie streckte beide Arme aus gegen das Schloß, mit einer Bewegung, als erwarte sie von dorther die Erlösung.
Bei dieser Beobachtung ging Ewald ein Schauer durchs Herz. Er wagte es nicht, sie anzureden, und kehrte erst spät ins Haus zurück. Unheimliche Vorstellungen bedrückten ihn; zum ersten Male seit langer Zeit floh ihn der Schlaf. Nach Mitternacht schlich er sich zum Stübchen seiner Frau hin und legte das Ohr an die Thür. Und in der Stille der Nacht vernahm er Laute, die ihn erbeben machten – Bettina weinte da drinnen, als breche ihr das Herz.
Eine mitleidige Wallung bewegte sein Inneres, schon erhob er die Hand, um gegen die Thür zu pochen, sie zu versichern, daß er nicht ihr Unglück wolle, sie ziehen lasse, da gab ihm die Selbstsucht den Gedanken ein: laß ihr Zeit, sie wird’s schließlich doch verwinden!
In dieser leisen Hoffnung bestärkte ihn am nächsten Morgen Bettinas Wesen. Sie kam lächelnd aus der Küche, sprach freundlich mit ihm über Wirthschaftsangelegenheiten und nahm anscheinend in heiterer Stimmung ihre gewohnten Arbeiten auf.
Aber auf die Dauer gelang es ihr nicht, ihrer selbst Herr zu bleiben. Vielleicht wäre ihr das möglich gewesen im zerstreuenden Getriebe einer Weltstadt – in dem einsamen Küstenort verzehrte sie sich in Sehnsncht nach dem Geliebten. Ihre Noth stieg, als ihr eines Tages eine Zeitung in die Hände fiel, in welcher von London aus ein Bericht stand über die großen Erfolge, welche Rott mit seinem hinreißenden Spiele dort davongetragen hatte. Warum, schrie es in ihrem Herzen auf, warum kann ich nicht an seiner Seite sein! Mit fiebernder Leidenschaft klagte sie ihr Schicksal an, raste gegen sich selbst, die in thörichter Ueberspanntheit geglaubt hatte, in der Flucht heraus aus der Welt, in der sie aufgewachsen war, ihr Glück, ihre Befriedigung zu finden.
Nächtelang saß sie auf ihrem Lager und suchte die nagenden Gedanken zu verscheuchen – umsonst! Sie kehrten wieder und bohrten sich in ihr Gehirn, bis sie der Kopf schmerzte und tolle, wahnsinnige Pläne vor ihr auftauchten. Mit Grauen sah sie dem Winter entgegen. War es schon unerträglich, die langen Nächte, gefoltert vom Elend, schlummerlos verbringen zu müssen, so
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_281.jpg&oldid=- (Version vom 10.6.2020)