Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1892) 366.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

neuen Straßen im Norden Berlins ab und vernahm hinter einem Zaune Stimmen. Er kletterte hinauf, konnte jedoch niemand bemerken, sah dafür aber aus einem Möbelwagen durch einen Ritz Licht schimmern und vernahm auch von dort verhaltenes Sprechen. Nachdem er zur Unterstützung einige Bewohner des Hauses herbeigeholt hatte, ging man an eine Untersuchung des Möbelwagens: behutsam hob mab das an der Rückwand angebrachte Plantuch hoch, und siehe da – nicht weniger als zwölf Bummler hatten es sich im Innern des Wagens sehr bequem gemacht und spielten bei dem Schein einer Lampe in höchster Gemüthlichkeit Karten. Brot, Wurst-, Schinken- und Speckreste ließen auf ein reichliches Abendbrot schließen, und aus anderen Anzeichen ging hervor, daß die Herren, unter denen sich mehrere von der Polizei seit langem gesuchte Individuen befanden, hier schon Wochen hindurch behaglich gelebt hatten. So gut treffen es nun nicht alle Obdachlosen und Flüchtigen, man fand und findet sie auch in Müllgruben und in den Fässern der Brauereien, in Wasser- und Abflußrohren, in leeren Kisten und selbst in Dampfkesseln, die wegen eines folgenden Feiertages nicht geheizt werden! Groß ist sodann die Auswahl bei „Mutter Grün“: da giebt’s Bänke und Lauben im Thiergarten und Friedrichshain, stille Plätzchen unter dichten Gebüschen und unter zusammengekehrten Laubhaufen; mit Vorliebe aufgesucht werden die Stellen unter Brücken und Stadtbahnbögen, und Verbrecher, die bei einer nächtlichen polizeilichen Razzia nicht ergriffen werden wollen, scheuen auch nicht vor einem Nachtlager auf dem Ast eines Baumes zurück.

Andere gelegentliche Schlupfwinkel bilden die Herbergen zur Heimath und die Asyle für Obdachlose, obgleich hier meist nach Legitimationspapieren geforscht wird – aber wie leicht kann sich ein Verbrecher falsche verschaffen, sei es, daß er sie stiehlt, sei es, daß er sie von guten Bekannten, auf welche die Polizei noch nicht aufmerksam ist, entlehnt. Die Herbergen zur Heimath, von denen es gegenwärtig vier in Berlin giebt, sind ebenso wie die Asyle Wohlthätigkeitsanstalten und wurden von dem „Evangelischen Verein für kirchliche Zwecke“ errichtet, in der Absicht, zuziehenden mittellosen Handwerkern, Kaufleuten, Arbeitern etc. ein billiges, sauberes Quartier zu schaffen und sie durch die Aufnahme vor den sittlichen Gefahren der Großstadt zu bewahren. So edel und anerkennenswerth das Bestreben ist, so ist es doch unmöglich, nur unbescholtenen Leuten Einlaß zu gewähren und mehrere vielgenannte Kriminalprozesse haben bewiesen, daß sich gefährliche Verbrecher gerade in jenen christlichen Herbergen am sichersten wähnten, dort sich durch Tausch und Verkauf verdächtiger Gegenstände entledigten und Gefährten für ihre dunklen Thaten unter den daselbst Wohnenden zu gewinnen suchten und auch fanden.

Ein Schlafsaal im „Asyl für Obdachlose“.

Diese Thatsache enthält keinen Vorwurf gegen die Verwaltung, die an sich musterhaft ist und die wärmste Unterstützung verdient; sie bildet nur einen neuen Beweis dafür, daß in dem wechselvollen Trubel des Berliner Lebens auch der Unschuldigste in persönliche Berührung mit Angehörigen des Verbrecherthums gerathen kann, sei es in den Herbergen, sei es in einem vielbesuchten Hotel, in einem eleganten Wiener Café, in einem vornehmen Restaurant, in einem Vergnügungslokal oder in einem Volks-Café.

Von Asylen giebt es zwei in Berlin, das aus privaten Mitteln gegründete und erhaltene „Asyl für Obdachlose“ in der Büschingstraße und das auf städtische Kosten erbaute „Städtische Obdach“ an der Prenzlauer Allee. Ersteres macht seinem Namen insofern besondere Ehre, als es von den Einlaßbegehrenden keinerlei Personalausweise verlangt und die Polizei, ohne besondere Erlaubniß der Verwaltung, seine Schwelle nicht übertreten darf. Letzteres fordert für die Aufnahme eine Legitimation und steht auch sonst zur Polizei in näheren Beziehungen, indem man ihr hier solche Personen, die öfter als fünfmal im Monat Unterkunft verlangen, als „arbeitsscheu“ übergiebt. Beide Asyle werden zahlreich besucht; stundenlang vor ihrer Eröffnung drängt sich eine dichtgescharte Menge vor ihren Thüren, und neben den fragwürdigsten Erscheinungen, welchen man die Verworfenheit und eine lange Gefängnißstrafe schon von fern ansieht, trifft man auch solche, deren ganzes Wesen errathen läßt, daß sie durch Unglück, verschuldetes oder unverschuldetes, allmählich tiefer und tiefer gesunken sind und noch voll verzehrender Sehnsucht jener Tage gedenken, wo es ihnen besser ergangen ist, wo sie nicht geahnt, daß sie einst im Verein mit Bettlern und Strolchen hier um Obdach flehen würden. Auch diese Asyle mögen wiederholt schuldbeladene Verbrecher auf kurze Zeit den verfolgenden Blicken der Polizei entziehen, aber wer möchte deshalb gegen sie sprechen und ihnen daraus einen Vorwurf machen! Tausende und Abertausende Bedrängter und Bedrückter haben sie vor der Verzweiflung gerettet, indem sie ihnen, ohne einen Pfennig Entgelt zu nehmen, menschenwürdige Aufnahme gewährten, indem sie dieselben mit Trank und Speise erquickten und den erschlafften Körper durch ein Bad stärkten, indem sie vor allem aber bei diesen Tausenden von Unglücklichen das Bewußtsein erweckten, daß sie in der Millionenstadt nicht ganz verloren seien.[1]

Haben wir in Vorstehendem die nächtlichen, zu Wohnungszwecken dienenden Schlupfwinkel der Verbrecher angeführt, so erübrigt es uns noch, ihre anderen Aufenthalts- und Versammlungsorte zu betrachten. Ueber diese bestehen im Publikum die seltsamsten Vermuthungen, und der Phantasie wird hier der freieste Spielraum gelassen in dem Erdenken und in der Ausmalung der geheimnißvollsten, von allen Schauern des unheimlichen umgebenen Oertlichkeiten, aus denen die übrigen Sterblichen, falls sie auf irgend eine Weise überhaupt hineingelangt sind, nur mit Gefahr ihres Lebens wieder herauskommen. Nichts falscher als das! Das moderne Berlin kennt nichts von unterirdischen Verstecken, von Höhlen und Fallthüren, von nur auf Schleichwegen zu erreichenden Zufluchtsorten, wo die gestohlenen Schätze verborgen liegen und neue verbrecherische Pläne ausgebrütet werden, von Diebsspelunken mit Doppelwänden, zwischen denen sich die Verfolgten verbergen können, und mit räthselhaften Schränken, deren Rückwände auf versteckte Gänge führen, die eine schleunige Flucht ermöglichen, wie es in früheren Kriminalgeschichten so anschaulich beschrieben wurde. Nein, der „moderne“ Verbrecher fühlt sich, wenn er sich nicht selbst aus bestimmten Gründen vor der Polizei verbergen will und seine Kleidung eine anständige ist, nirgends sicherer und ungenierter, als an jenen Orten, wo der harmloseste Verkehr herrscht, und am bezeichnendsten hierfür ist es, daß sich neuerdings ganze Verbrechercliquen zu ihren Zusammenkünften Volks-Cafés erwählt haben und sich dort in den Vormittagsstunden zu ihren „Berathungen“ versammeln.

Aber auch an anderen Orten können wir sie finden, im

  1. Lassen wir Zahlen sprechen: das private Asyl für Obdachlose wurde allein im Jahre 1890 in 123519 Fällen in Anspruch genommen, darunter in 108072 von Männern und in 15447 von Frauen, Mädchen und Kindern; der nächtliche Durchschnittsbesuch bezifferte sich auf etwa 340. Seit seinem Bestehen, 1870, hat dieses private Asyl in 2209714 Fällen Obdach gewährt. Die musterhafte Verwaltung plant eine bedeutende Vergrößerung, damit die doppelte Zahl Obdachloser Aufnahme finden kann. Möchten hierzu die Mittel recht reichlich fließen! Zuwendungen nimmt der Vorsitzende des Verwaltungsrathes, Herr Gustav Thölde in Berlin, Zimmerstraße 95, entgegen.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 366. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_366.jpg&oldid=- (Version vom 7.4.2024)
OSZAR »