Verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
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„Um Gotteswillen, nein!“ Sie nestelte mit aufgeregt zitternden Händen die Kette los und verbarg sie samt dem Medaillon in ihrem Kleide. Einen schwermütigen Rundblick sandte sie noch durch den Raum, in dem er bis vor kurzem geweilt, in dem sie Abschied genommen hatte – dann klang die Thür, und sie war gegangen.
Ein paar stürmische und regnerische Tage waren gekommen ... Kapitän Leupolds Rheumatismus war doch ein guter Wetterprophet gewesen, „besser als irgend ein Laubfrosch“, wie sein Besitzer mit einem gewissen Stolz betonte. Heute zum erstenmal wieder versuchte die Sonne sich durchzukämpfen durch die grauen Schleier, welche das böse Wetter im Gefolge gehabt hatte. Zuweilen gelang es ihr auf einen Augenblick, aber zum rechten entscheidenden Sieg wollte es nicht kommen. Immer von neuem schoben sich Wolkenberge vor das leuchtende Auge der Sonne, das nur mit schüchternem Blinzeln zwischen den zusammengeballten Dunstmassen hervorsah. Die Blumen im Park und im Garten von Schloß „Perle“ ließen, schwer von Feuchtigkeit, die Köpfe hängen.
In den schönen luftigen Zimmern der Baronin sah es trübe aus. Die kranke Dame hatte seit jenem einen günstigen Tage das Bett nicht mehr verlassen; sie war verzagt und verstimmt und quälte ihre Umgebung mit hundert unausführbaren Wünschen und Einfällen.
Doßberg und seine Tochter saßen an ihrem Bett, das so bequem und praktisch wie nur möglich und aufs eleganteste mit blauen Seidenvorhängen, mit Spitzenüberwürfen und Schnitzereien ausgestattet war. Statuen, Büsten und Bilder, wie sie dem Geschmack der Baronin entsprachen, schmückten reichlich den hohen weiten Raum. Der Baron hielt zärtlich die feine schmale Hand der Gattin in seiner kräftigen Rechten und sah in das blasse Gesicht, das ihn dereinst so bezaubert hatte und ihn auch heute noch das Lieblichste auf Erden dünkte.
„Der Regen läßt gerade etwas nach. Was meinst Du, Elli, soll Ilse einmal rasch in den Garten hinunterlaufen und Dir ein paar frische Blumen holen?“
„Du bist merkwürdig, Hans Gottfried! Als ob ich an einem Tage wie heute den Blumenduft aushalten könnte! Immer und immer kommt Ihr mir mit Blumen – beinahe wie um mich damit zu reizen!“
„Verzeih’, meine arme Elli!“
„Wie soll ich Dir nicht verzeihen – Du meinst es ja gut! Aber Menschen, die immer gesund sind, die haben klug reden. Ilse, die Erdbeerlimonade!“
Ilse hatte bisher stumm am Kopfende des Bettes gesessen, mit aufgelösten Haaren, wie es ihre Mutter verlangt hatte. Mit einem freundlichen: „Hier, Mama!“ reichte sie jetzt der Kranken das Glas mit der Limonade und hielt es ihr geschickt zum Trinken hin.
„Danke! Nein, nein – ich will nichts mehr. Sieh mich doch an, Kind! Wenn ich nur wüßte, was das mit Dir ist! Und mit Papa auch! Alle beide seid Ihr verändert, alle beide!“
„O Mama, das kommt Dir so vor, weil Du krank bist.“
„Ja, krank bin ich – Gott sei’s geklagt, aber darum hab’ ich doch noch meinen Verstand! Ich merke ganz gut, daß Ilse ihren Frohsinn verloren hat, und daß Du, Hans Gottfried, sehr verstimmt aussiehst. Was in aller Welt kann Euch begegnet sein? Zwei gesunde, glückliche Menschen wie Ihr, die Ihr keine Krankheit, keine Sorge kennt ... oder wäre es mit mir schlimmer geworden und Ihr wollt es mir nicht sagen?“
„Liebe Elli, welcher Einfall!“
„Kein Gedanke daran, Mama!“
Die kranke Frau ließ beruhigt den erhobenen Kopf sinken. „Aber was ist es sonst, was kann es sein? Macht Armin etwa Dummheiten? Sein letztes Zeugnis war doch recht gut!“
„Armin ist ganz brav. Reg’ Dich nicht auf, mein Kind, und sprich nicht so viel!“
„Reden schadet mir gar nichts. Stillliegen und Denken ist viel schlechter. – Apropos, ich hab’, um Ilse zu erfreuen, durch Lina von unserem Pariser Lieferanten eines von diesen entzückenden weißen Tuchkleidern verschreiben lassen, wie sie jetzt getragen werden – sie sind in allen drei Modezeitungen, die ich mir halte, zu finden. Wär’ ich gesund, gleich schaffte ich mir solch ein Kostüm an; Weiß stand mir ja so gut, nicht wahr, Hans Gottfried? Nun muß Ilse es haben – es wird sie reizend kleiden – mit feiner Goldstickerei. Freilich ist es eine fabelhaft kostbare Mode, aber Papa bezahlt ja gern ein hübsches Kleid für sein Prinzeßchen – nicht so, Liebster?“
„Natürlich, mein Herz!“
Ilse gab ihrem Vater einen Wink mit den Augen, den er verstand. Lina hatte ganz gehorsam auf Wunsch der Baronin und in deren Beisein geschrieben, aber der Brief war nicht abgegangen. Das wurde in den meisten Fällen so gemacht. Die Baronin hatte nur noch ein schlechtes Gedächtnis; sie vergaß oft schon am nächsten Tag, was sie am vorhergehenden gewünscht hatte, und erinnerte sie sich je einmal einer derartigen Sache, so war es nicht schwer, sie zu vertrösten oder irgend eine Ausflucht zu ersinnen, welche die Erfüllung ihres Wunsches in Frage stellte.
„Noch etwas anderes hab’ ich mir ausgedacht in der langen schlaflosen Nacht,“ fuhr die Baronin fort. „Ilse reitet schon seit undenklichen Zeiten nie mehr vor meinen Fenstern Parade, und das war doch so hübsch früher, ich sah es so gern, denn es zerstreute mich. Taugt Deine ‚Fatime‘ am Ende nichts mehr, mein Kind? Ist sie steif geworden? Papa wird Dir gewiß ein neues Reitpferd anschaffen, ich denke, eine Rappstute – was meinst Du, lieber Freund? Oder ist ‚Fatime‘ noch zu gebrauchen? Was ist denn aus ihr geworden?“
Ja, was war aus „Fatime“ geworden, aus der reizenden arabischen Schimmelstute mit dem kleinen, fein geformten Kopf und der langen Seidenmähne? Sie war tadellos gewesen, ein kluges Tier, das seine junge Herrin an der Stimme kannte, den Kopf herumwarf und die rosafarbenen Nüstern blähte, sobald Ilse es beim Namen rief. Als vor einigen Monaten Baron Doßberg zögernd und traurig zu seiner Tochter gekommen war und ihr gesagt hatte, er müsse sich eine Zeitlang einschränken, und sie alle, mit Ausnahme der „armen Mama“ natürlich, hätten Opfer zu bringen – der Bestand seiner Rassepferde repräsentiere eine hohe Summe und auch für „Fatime“ sei ihm ein schönes Angebot gemacht worden ... da war Ilse äußerlich ganz tapfer gewesen. Sie war dem Papa um den Hals gefallen, hatte ihn gestreichelt und getröstet, bis ein mattes Lächeln auf seinem Gesicht erschienen war. Aber als er nachher in sein Zimmer ging, da sah sich Ilse scheu um, ob sie niemand beobachtete, und schlich sich dann auf Umwegen sachte in den Pferdestall. Dort wieherte „Fatime“ ihr erwartungsvoll entgegen, und das junge Mädchen faßte das edle Tier mit beiden Armen um den Hals und fing bitterlich an zu schluchzen. Sie war eine leidenschaftliche Reiterin, sie kannte kaum ein größeres Vergnügen als das, auf „Fatimes“ Rücken durch Wald und Feld zu schweifen, jetzt in beschaulichem Schritt, in allerlei Zukunftsgedanken versunken, jetzt in schlankem Trab über eine Brücke, ein Stück Landstraße, nun im verwegensten Galopp eine Hecke, einen Graben nehmend – „Fatime“ federkräftig, wie der Pfeil von der Sehne schnellt, hinüberfliegend, die Reiterin mit freudigem Zuruf sich im Sattel hebend, die Brust von Mut und Unternehmungslust geschwellt ... wie schön, o wie schön das war!
All diese Gedanken gingen Ilse blitzschnell durch den Sinn, während sie anscheinend gelassen erwiderte. „Ein neues Reitpferd für mich? Ach nein, Mütterchen, das ist nicht nötig! Der ‚Fatime‘ geht es sehr gut, sie ist noch dasselbe schöne kräftige Tier wie früher!“
Das war keine Lüge, denn einer der Gutsnachbarn Doßbergs hatte die Stute gekauft und hielt sie gut.
„Dann ist’s recht, dann kann ich meine Ilse bald wieder als elegante Reiterin bewundern!“
Es klopfte leise an die Thür; Lina meldete, es sei Besuch für den Herrn Baron gekommen. Doßberg erhob sich unruhig und vermied es, Frau und Tochter anzusehen. „Ich bin leider genötigt, Dich zu verlassen liebste Elli, Du wirst entschuldigen. Es handelt sich um geschäftliche Angelegenheiten –“
„So geh’ nur, geh’, Hans Gottfried, und komm’ mir ums Himmelswillen nicht mit Deinen schrecklichen Geschäftssachen! Und Du kannst Ilse gleich mit Dir nehmen, ich bin doch etwas ermüdet vom Sprechen und kann vielleicht ein Stündchen schlafen. Lina bleibt hier.“
Der Baron und Ilse stiegen stumm nebeneinander die Treppe hinab. Unten wartete Fink, der einzige noch übrige Diener des Hauses, mit einer silbernen Tablette, auf der drei Visitenkarten lagen. „Ich habe die Herren ins Arbeitszimmer geführt, Herr Baron!“
„Ganz recht, Fink!“
Ilse warf einen raschen Blick auf die Karten; zwei davon trugen bekannte Namen: „Sorau, Justizrat“ und „C. F. Melchior,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_082.jpg&oldid=- (Version vom 22.6.2023)