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Seite:Die Gartenlaube (1894) 109.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Erster Textabschnitt: ( gemeinfrei ab 2025)

Wellners „Segelrad-Flugmaschine“: Stirnansicht.



Zwei thüringer Volkslieder.

Von Elise Polko.

Wie die weißen flatternden Fäden im Spätsommer – „Mariengarn“ nennt sie der Volksmund – so schwirren auch die Töne zu allen Zeiten und Stunden in der Luft umher, drängen sich an Ohr und Herz, wollen festgehalten sein und flüstern geheimnisvoll: „Wir haben dir etwas zu erzählen, wenn du zuzuhören verstehst!“ Solch Zuhören aber erscheint mir allezeit leicht und lohnend, denn im Nu reiht sich da Melodie an Melodie, es erhebt sich vor uns ein musikalischer Bau, ein Luftschloß, an dessen Fenstern die verschiedenartigsten Gestalten erscheinen, aus allen Zeiten, und jede von ihnen hat ihre Geschichte, und eine hängt eng mit der andern zusammen. Diesmal waren es lauter thüringer Kinder, alte und junge, die sich von dem mich umspinnenden Tongewebe abhoben, musikalische Charakterköpfe, von denen mir zufällig ein schönes Cello erzählte.

In einem Privatsalon Wiesbadens hatte ich eines Abends ein Kind Thüringens spielen hören, den Kammervirtuosen Oskar Brückner aus Erfurt. Wir saßen nachher noch beisammen in traulicher Unterhaltung und Brückner erzählte von seiner Lehrzeit bei Altmeister Grützmacher in Dresden, von der Art der Unterweisung und Auffassung Grützmachers und gab dazu die interessantesten Beispiele auf seinem schönen Instrument. Es war gleichsam ein Duo: schwieg Oskar Brückner, der Erzähler, nahm das Cello des Künstlers das Wort, und wie melodisch und beredt erschienen dann die Töne! Wir konnten kein Ende finden mit Zuhören. Endlich aber, als das Instrument zu Bett gebracht werden mußte – es war längst nach Mitternacht – und wir an den Aufbruch dachten, neigte Brückner sich noch einmal über sein Cello, und es glitt wie ein Hauch, wie ein Traum von seinen Saiten. Eigentlich war es nur der Schatten einer Melodie, und doch erkannte ich sie sofort: ein Schülerchor hatte sie einst, vor langer, langer Zeit, in Leipzig irgend einem scheidenden Lehrer gesungen. Ich erinnerte mich, daß jenes Lied die Ueberschrift trug „Der Wanderer“. Und wie man Worte rascher vergißt als Töne und Klänge, so ist mir vom Text kaum mehr als der Anfang und der Refrain geblieben. Er lautete:

„Wenn ich den Wandrer frage:
Wo willst Du hin? –
Nach Hause, nach Hause!“

Und das klagende Schlußwort hatte sich mir damals ins junge Herz geprägt:

„Hab’ keine Heimat mehr!“ – –

Aber auch noch andere waren da an jenem Abend, die sich aus der Jugendzeit eben dieses Liedes noch lebhaft erinnerten, das sie selber einst mitgesungen hatten; und so stürmten, als das Cello schwieg, Fragen über Fragen auf den Spieler ein, wie er denn eben jetzt zu jener längst verklungenen Melodie gekommen sei. Der Künstler aber entgegnete lachend: „Nun, weil wir alle jetzt endlich selber ,nach Hause’ wandern müssen, denke ich, und weil kein Geringerer als unser Silcher diese Melodie für Männerchor ausarbeitete, nachdem er hin und her, öffentlich und privatim, nach dem eigentlichen Komponisten geforscht. Der wirkliche Komponist dieser allbekannten Weise aber ist mein alter Vater in Quedlinburg!“

Und da reihen sich denn verschiedene Bilder aneinander, die an jenem Wandererliede hängen, das einst kein Männergesangverein in seinem Repertoire fehlen lassen durfte – ich versuchte,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_109.jpg&oldid=- (Version vom 1.9.2023)
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