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Seite:Die Gartenlaube (1894) 250.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

S’ mi fort, lieber Herr, i werd’s g’wiß nimmer thun; i verlier’ ja sonst meine Pfründen; oder sie geb’n mich ins Versorgungshaus! Was soll denn dann mit dem armen Kind g’schehn?“ Mittlerweile hat sich eine große Menschenmenge angesammelt. Man sucht den Wachmann zu überreden, das Weiblein freizulassen. „Ich darf nicht, meine Herren,“ sagt dieser achselzuckend. „Mir thut’s ja selber leid; aber ich hab’ strengen Auftrag. Paragraph 2 des Vagabundengesetzes. Kommen S’ nur mit, Frauerl! Es g’schieht Ihnen net viel. Sie können ja gleich wieder nach Haus geh’n.“ Die Alte fügt sich zitternd und jammernd ins Unvermeidliche und wird auf dem Polizeikommissariate nach der Protokollsaufnahme „vorläufig“ entlassen.

Wenn auch die Behörde ein wachsames Auge auf den Straßenbettel hat, so gelingt es besonders den Berufsbettlern noch häufig genug, der Polizei ein Schnippchen zu schlagen.

Ahnungslos wandelt da ein Mann auf einer der belebtesten Straßen dahin. Er bleibt vor einer Auslage stehen. Auf einmal hat er einen Begleiter an seiner Seite, der mit ihm geht und ihm eine rührende Geschichte erzählt. Bald ist ihm sein armes Weib gestorben, bald liegen seine Kinder krank danieder; er selbst ist meistens erst aus dem Spital entlassen, schwach und hinfällig und hat den ganzen Tag oder noch länger keinen Löffel Suppe genossen. Der andere kauft sich endlich von der Fortsetzung der immer schauerlicher werdenden Familientragödie durch ein paar Kreuzer los. Der Bettler lüftet den Hut und empfiehlt sich wie ein Bekannter.

In der Nähe der Aspernbrücke geht ein blasses Weib mit einem kleinen Kinde. Mitten in der Straße stürzt sie plötzlich mit einem schrillen Aufschrei zusammen. Dem Kutscher einer Equipage, welche eben daherfährt, gelingt es gerade noch, die Pferde zum Stehen zu bringen. Die Frau, die sich in epileptischen Krämpfen windet, ist nach rückwärts gestürzt, sonst wäre das Kind auf ihrem Arme von der Wucht des Sturzes zermalmt worden. Das arme Kleine fängt fürchterlich zu schreien an, wirft sich auf die Bewußtlose und ruft: „Mutterl, Mutterl!“ Es ist eine herzzerreißende Scene. Eine große Menschenmenge hat sich alsbald versammelt; aus der Equipage steigt eine Dame, welcher der Jammer dieser Hilflosen sehr zu Herzen geht. Sie zieht eine Banknote aus ihrer Geldbörse und giebt sie dem Kind. Die Umstehenden folgen dem wackeren Beispiel, und bald ist eine nicht unansehnliche Summe beisammen. Jetzt erwacht auch das Weib aus der Ohnmacht. Verstört und als ob sie sich erst besinnen müßte, wo sie sei, blickt sie um sich. Doch plötzlich scheint sie wieder ihren Verstand beisammen zu haben. Sie faßt ihr Kind und drängt sich, einen kurzen Dank stammelnd, fluchtartig durch die Menge. „Sie kommen mit!“ ruft ein Sicherheitswachmann sie barsch an. Das Weib blickt hilfesuchend zu ihren Wohlthätern hinüber. „Sie hat nicht gebettelt,“ versichert ein Herr das behördliche Organ, und als dieser das Weib an der Hand faßt und mit sich nehmen will, werden Stimmen des Unmuts laut und einige Anwesende erbieten sich freiwillig, Zeugnis dafür abzulegen, daß das Weib nicht gebettelt hat. „Stören Sie die Amtshandlung nicht!“ sagt die Wache. „Ich kenne meine Leute. Das ist eine abgefeimte Betrügerin. Was Sie gesehen haben, ist simuliert. Sie versucht ihr Glück in jedem Bezirke. Marsch fort!“ Das Kind schreit und die enttäuschte Menge bricht jetzt über die Betrügerin in Verwünschungen aus.

„Da soll der Mensch ein Mitleid haben!“ sagt ein Mann im Arbeiterkittel. „Mein letzt’s Sechserl hab’ ich hergegeb’n für die Gaunerin, weil mir das Elend ans Herz ’gangen is. I gieb aber kan’r mehr ’was, das weiß i.“

„Aber i bitt’ Ihnen, Herr Nachbar,“ sagt eine robuste Marktfrau, „es is immer noch g’scheiter, man laßt sich zehnmal betrüg’n, als man laßt einmal ein’ Hungrigen von der Thür geh’n.“

Die typischen Fälle alle aufzuzählen, mit denen die Bettlerindustrie, dieser gefräßige Parasit der wirklichen Armut, ihre Geschäfte macht, würde hier zu weit führen. Unter den verschiedensten Masken drängen sie sich heran, und was dem unterstützungswürdigen Elend, das sich nicht hervorzudrängen weiß, entzogen wird, das ergattern diese Gäuche durch List und freche Aufdringlichkeit.

Ein Gast tritt aus einem Kaffeehause. Der Marqueur empfiehlt sich und nennt, wie das üblich, den Namen des Herrn[.] Nach einigen Schritten auf der Straße tupft diesen jemand auf die Schulter. Er sieht sich um und blickt in ein völlig fremdes Antlitz. „Grüß’ Dich Gott, Meier,“ sagt der Fremde in vertraulichem Ton, „mir scheint, Du kennst mich nimmer. Wir sind ja miteinander in die Schul’ gegangen.“

Bettler in einem Thorweg, ihre Erfahrungen austauschend.

Der Angeredete lächelt verlegen, thut, als ob er den Unbekannten kenne, und spricht, nur um etwas zu sagen, von der Schule, von den Lehrern und Mitschülern. Der vermeintliche Mitschüler wird vertraulicher und erzählt dem Kameraden seine Lebensgeschichte[,] die im Verlaufe immer trauriger und trostloser wird. Dem Angeredeten wird bei der Erzählung immer schwüler und unheimlicher zu Mute. Er fühlt sich umstrickt; er merkt, wo das hinaus will, und getraut sich doch nicht, seine Taktik zu ändern; denn er hat den Begleiter ja in der ersten Verlegenheit als Kameraden anerkannt. Jetzt platzt die Bombe. Der „arme Kamerad“ ist gegenwärtig ohne Stellung, seine Mutter – „Du kennst sie ja“ – ist bei Verwandten in Steiermark untergebracht. Eben hat er einen Brief erhalten. Seine Stimme umflort sich. Sie liegt im Sterben. „Mein armes Mütterchen,“ schluchzt er – „und ich soll sie nimmer sehen wegen lumpiger zwei Gulden, die mir noch auf das Reisegeld fehlen!“ Der „Kamerad“ giebt die zwei Gulden her, um die saubere Bekanntschaft los zu werden. Er ist überzeugt, daß er beschwindelt wird; aber er weiß keinen andern Ausweg.

Der Wirtshausbettler zeigt wieder eine andere Physiognomie. Es sind zumeist wirklich Bedürftige, welche in den kleineren Vorstadtgasthäusern von Tisch zu Tisch um milde Gaben gehen, Blinde in Begleitung eines Kindes, Krüppelhafte aller Art, hilflose Greise und alte Mütterchen. Die Kontrolle übt hier der Wirt. Manchmal nimmt der Bettel in diesen Lokalen das Mäntelchen eines Gewerbes um. Der blinde Bettler hat eine kleine Spielorgel umgehängt, die einige Takte klimpert, worauf der Gast den Kunstgenuß mit einem Kreuzer entlohnt. Ein anderes nicht zu billigendes Bettelgewerbe ist das Anbieten von „Planeten“ durch kleine Kinder. „I bitt’, kaufen S’ m’r ein’ Planeten ab! Steh’n drei Numero d’rauf, die g’wiß kommen.“ Mit diesen Worten bietet der kleine Knirps seine Ware an. Die „Planeten“ sind

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_250.jpg&oldid=- (Version vom 26.6.2023)
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