Verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
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Etwas anderes ist es mit jenen obengeschilderten Havarien,
die den Dampfer auf hoher See steueruntüchtig machen und ihn
zwingen, willenlos auf den Wellen zu treiben, bis ein glücklicher
Zufall ihm Hilfe schickt. Ganz zu vermeiden find diese Unfälle für
Einschraubendampfer, d. h. für neun Zehntel der Schnelldampfer
aller Völker, nicht. Wer sich zur Zeit der schweren Stürme,
im Winter oder zur Aequinoktialzeit, aufs Meer begiebt, kann
in die Lage kommen, mit ihnen rechnen zu müssen, wiewohl
auf hundert Schnelldampfer mit glücklicher Fahrt vielleicht kaum
einer kommt, dem es geht wie der „Ems“ oder der „Eider“,
die vor zwei Jahren im Kanal strandete.
Ernstliche Gefahren für Leib und Leben der
Passagiere sind bei Unfällen wie die „Ems“
sie hatte, nicht zu befürchten; die schlimmsten Gäste, welche die
Besatzung eines auf dem Meere treibenden Dampfers heimsuchen
können, sind Hunger und Durst, und ihnen ist auf unseren großen
Passagierdampfern gründlich vorgebeugt. Für den Durst helfen
die mitgeführten Getränke, das Wasser
und die Destillierapparate, mit denen sich im Notfalle auch das
Meerwasser trinkbar machen läßt, und was den Hunger anlangt,
so wird ein Blick auf die Menge der von einem großen Schnelldampfer geführten
Lebensmittel alle Befürchtungen schnell vertreiben. Ein solcher Dampfer nimmt
im vollbesetzten Zustande gegen 1500 hungrige Mägen an
Passagieren und Besatzung auf, die mitgeführten Viktualien
aber belaufen sich auf annähernd 55000 Kilo feste Lebensmittel
und 10000 Liter Bier, Wein, Milch etc. Gegen 370 Centner Fleisch
jeder Art, 600 Centner Mehl, Brot, Kartoffeln und Hülsenfrüchte
bilden neben unermeßlichen Schätzen an Butter, Zucker, Kaffee,
Kakao, Eiern, Konserven und so hinauf bis zu den erlesensten
Zungengenüssen den Grundstock dieser Reserve an Lebensmitteln,
die es gestatten würde, selbst bei vierwöchigem Umhertreiben
auf hoher See jeden Kopf an Bord täglich mit 400 Gramm
Fleisch, 400 Gramm Kartoffeln oder Gemüse und 250 Gramm
Mehl überreichlich abzuspeisen. Die Getränke an Bier, Wein,
Kaffee, Thee, Kakao etc. dürften noch länger vorhalten. Den
Hunger hat also der Schnelldampferpassagier selbst im ungünstigsten
Falle nach schwerer Havarie sicherlich nicht zu fürchten, wohl aber
Langeweile, zum großen Teil die Seekrankheit und endlich den
Zeitverlust, Uebelstände, die immerhin schwer genug wiegen, um
die Frage zu rechtfertigen, ob es denn in der That kein Mittel
giebt, die verhängnisvollen Schrauben- und Steuerhavarien ganz
zur Unmöglichkeit zu machen oder doch zu einem gewissen Grade
von Unschädlichkeit zu bringen.
Bei den gewöhnlichen Einschraubendampfern giebt es, wie schön erwähnt, wenig oder gar keine Abhilfe, aber seit einer Reihe von Jahren ist man auch schon über das System des von einer Schraube betriebenen Dampfers hinausgegangen, man baut Dampfer mit zwei nebeneinander liegenden und von völlig getrennter Maschinerie getriebenen Schrauben. Die Vorzüge dieser Anordnung sind unverkennbar. Zunächst ist es schon ein Gewinn, daß sie die Trennung der Betriebskraft in zwei gesonderte Maschinen zuläßt, denn 13000- bis 14000pferdige Dampfkolosse, wie sie die größten Einschraubendampfer der Welt, „Havel“ und „Spree“ vom „Norddeutschen Lloyd“, in sich beherbergen, gehen bereits über das Maß des wirtschaftlich Zulässigen hinaus. Ihre in ungeheuerer Bewegung befindlichen Massen nehmen bereits allzu große Ausdehnungen an, die Uebersicht des Getriebes und die Unterbringung der 45 Fuß hohen Maschine wird gleichmäßig erschwert, und endlich liegt auch die Gefahr eines Kurbel-, Schaft- oder Schraubenbruches näher, wenn die ganze Kraft von 14000 Pferdestärken auf eine Welle sich entlädt, als wenn zwei 7000- bis 8000pferdige Maschinen zwei Wellen mit entsprechend kleineren Schrauben bewegen. Der Uebelstand, daß zwei kleinere Maschinen etwas mehr Dampf, mithin mehr Kohlen verbrauchen als eine von doppelter Größe, wiegt diese Vorteile nicht auf. Aber auch die Sicherheit und Lenkbarkeit des Schiffes wird durch das Zweischraubensystem in unvergleichlichem Maße gefördert, denn die beiden Schrauben vermögen durch ihre gegenseitige Beeinflussung bei verschieden schnellem Antrieb völlig die Wirkung des Steuerruders zu ersetzen. Der einfache Schraubendampfer ist hilflos, sobald seine Maschine, Schraube oder das Steuer versagt, der Doppelschraubendampfer in keinem dieser Fälle; auch nach Verlust des Steuers bleibt er durch die beiden Maschinen noch völlig in der Gewalt seiner Führer. Auch die Reserve, welche ihm bei der Verletzung einer Maschine, Welle oder Schraube durch die zweite Maschine geboten wird, ist ein unschätzbarer Vorteil, den man leider beim modernen Schiffsbau noch nicht hinreichend zu würdigen scheint. Als die „Paris“ von der „Inman-Linie“ in ihrem ersten Betriebsjahre 1889 auf einer der ersten Reisen von einer schweren Havarie ihrer
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_285.jpg&oldid=- (Version vom 26.6.2023)