Verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
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Reisens ganz besonders unternehmenden Zeitalters der Entdeckungen Kolumbus auf treu nachgeahmter Karavelle. Still und ernst zieht Huß zum Konzil von Konstanz, umgeben vom kaiserlichen Freigeleite, das ihn doch nicht vor dem Märtyrertode schützen sollte. Und plötzlich sind wir wieder in den Prairien Nordamerikas und verfolgen einen Indianerstamm, der mit Weib und Kind neue Jagdgründe aufsucht, oder in dem heißen Sande der Sahara, durch den das „Schiff der Wüste“ mit seinem Beduinenscheich der fernen Oase zustrebt. Dann aber findet auch die Gegenwart ihr Recht mit ihren Reisenden aller Art, den protzigen Engländern, den Handwerksgesellen „auf der Walz“, den „Commis Voyageurs“, den Orgeldrehern, Bärenführern, Savoyardenknaben, Bettelmönchen, Hochzeitsreise-Pärchen, den Säumern der Gebirgspfade, Alpenfexen und -fexinnen. An komisch zur Jungfrau gestaltetem Fels pustet ein in einem vollbesetzten Bahnwagen endigender Vogel Greif zur Spitze hinan, von der die Schweizer Fahne wirklich herabgrüßt, und dahinter werden die phantasievollen Luftreisen der Zukunft mit gutem Humor verspottet.
Hunderte von köstlichen Figuren ließen sich da herausgreifen; wir müssen uns beschränken und erwähnen nur die vorzügliche Vertretung des Pfarrers Sebastian Kneipp von Wörishofen, der auf seiner Romfahrt, ohne im mindesten karikiert zu sein, freundlich und würdig nach links und rechts grüßte, der Humor der Figur lag in dem Rüstzeug, mit dem der würdige Herr der Krankheit und dem Tode zu Leibe geht, der blechernen Gießkanne, die er in der einen Hand trug. Kostümierte Musikkorps waren in die Gruppen eingereiht und zum Gesangsfest ziehende Männer- und gemischte Chöre ließen ihre Gesänge erschallen. Ueber tausend „Zunftgenossen“ hatten sich in den Dienst der gemeinsamen Sache gestellt und die glücklicherweise wohl situierten Zunftkassen sollen an die zweimalhunderttausend Franken geopfert haben, um alles recht schön und gediegen zu machen.
Gegen 6 Uhr kehrte der Zug auf den herrlich gelegenen Platz bei der Brücke am See-Ende zurück, wo nach alter Uebung von den Knaben der Stadt auf einem haushohen Scheiterhaufen der „Bögg“, eine den Winter vorstellende Fratze, verbrannt wurde. Als die kostümierten Gruppen sich auflösten, und Hunnen, Römer, Indianer, Ritter und Handwerksgesellen, Engländer und Zigeuner sich unter das Volk mischten, als die Flamme emporlohte, den Winter ergriff, so daß das Feuerwerk, mit dem er gefüllt war, ihn knallend und zischend auseinander riß, und als in den Jubel des Volkes hinein Schlag sechs die Glocke des Münsters ertönte, da hatte das Fest seinen Höhepunkt erreicht. Blickte man dann hinaus auf den blauen See, wo die Gondeln sich wiegten, und hinauf ins Gebirge, dessen schneeige Gipfel im Schimmer der scheidenden Sonne erglänzten, so mußte Teilnehmer und Zuschauer die Empfindung ergreifen: „Welch ein herrliches Frühlingsfest, der Frühling feiert selber mit!“ J. H.
Die Perle.
Doktor Morschewsky warf auf den alten Kapitän einen Seitenblick, als wollte er ihm seine Ungeduld verweisen, und fuhr dann fort: „Ich habe schon lange mit Ihnen sprechen wollen, liebe Isolde, es trieb mich, Ihnen meinen Rat, meine unmaßgebliche Meinung zu übermitteln.“
„Ja, und was meinen Sie denn nun eigentlich?“ warf Leupold dazwischen.
„Ich meine als Arzt wie als alter Freund des Herrn Barons, daß dessen Leben gefährdet ist, wenn er noch länger in einer Lage bleibt, die für eine Natur, einen Charakter wie den seinigen geradezu Gift ist: fern von der Heimat, ohne Thätigkeit, seinen quälenden Grübeleien überlassen, die Seele krank von einem Heimweh, das schon Menschen getötet hat, die stärker waren als er!“
„Aber Doktor, Doktor, das scheint mir denn doch bedeutend übertrieben!“
„Menschen getötet hat, die stärker waren als er!“ wiederholte der Arzt unbeirrt. „Ich habe in meiner eigenen Praxis Belege dafür gehabt. Die Sache mit dem gebrochenen Herzen ist nicht immer eine sentimentale Redensart – ich sage Ihnen, es giebt Leute, die an gebrochenem Herzen sterben, und es giebt auch Leute, die an Heimweh zu Grunde gehen, zuerst langsam, langsam ... dann mit einem Mal ist’s zu Ende, und der Arzt, um dem Ding einen Namen zu geben, setzt sich hin und schreibt irgend etwas Lateinisches in den Totenschein. Ich habe nun, wie gesagt, schon lange mit Fräulein Isolde reden wollen – allein natürlich! Aber ich habe sie immer nur mit ihrem Vater zusammen gesehen. Eine gute Tochter sind Sie, mein teures Kind, eine sehr gute Tochter! Nun, da habe ich denn auf meine eigene Verantwortung einen Schritt gethan – schrecken Sie nicht so zusammen, liebste Isolde, Ihr Vater weiß noch nichts davon, und es steht bei Ihnen, bei Ihnen ganz allein, ob Sie den Plan gutheißen und ihm mitteilen wollen oder nicht. Ich weiß, wie der Baron an der ‚Perle‘ hängt, ich sehe es, er kann ohne die ‚Perle‘ nicht leben. So müssen wir also versuchen, sie ihm wieder zu verschaffen, er muß wieder in seiner alten Heimat leben dürfen.“
Ilse lehnte sich in den Sessel zurück; ihre Augen waren unnatürlich groß, aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen.
„Ich habe mich rechts und links bei meinen zahlreichen Kranken nach dem jetzigen Besitzer der ‚Perle‘, diesem Herrn von Montrose, erkundigt,“ fuhr der Arzt fort. „Er soll nicht leicht zugänglich sein. Alle aber kamen doch darin überein, er sei ein Ehrenmann im vollen Sinne des Wortes. Ich hörte, er sei auch mit Doßberg als Administrator gut zurechtgekommen, das Verhältnis sei das beste gewesen, während der Nachfolger des Barons sich nicht behaupten könne. Da habe ich mir denn erlaubt, eigenmächtig in die Verhältnisse einzugreifen, liebste Isolde: ich habe an Herrn von Montrose geschrieben und ihn gebeteu, Ihren Vater wieder nach ‚Perle‘ zurückzunehmen. Hier ist die Antwort auf meinen Brief – sie traf während Ihrer Abwesenheit bei mir ein.“
Doktor Morschewsky griff in seine Brusttasche und reichte Ilse einen Brief, dessen Umschlag das Wappen der Montroses, die weiße Rose im roten Felde, trug. Ilse zuckte zurück, als habe sie glühendes Eisen berührt. Kapitän Leupold nahm dem Arzt den Brief aus der Hand und hielt ihn ihr geöffnet hin, damit sie mit ihm zugleich hineinsehen konnte. Es war ein kurzgefaßtes Schreiben in einer festen charaktervollen Handschrift:
„Hochgeehrter Herr Doktor!
Indem ich Ihnen für Ihr Schreiben und das mir bewiesene Vertrauen verbindlichst danke, teile ich Ihnen mit, daß es mir jederzeit eine Ehre und eine Freude sein wird, Baron Doßberg bei mir wieder aufzunehmen, daß ich aber ihm selbst sowie seinem Fräulein Tochter die Entscheidung in dieser Angelegenheit anheimstellen muß, da es mir leider verwehrt ist, irgend welchen weiteren Schritt zu thun. Sowie Baron Doßberg sich bereit erklärt, nach ‚Perle‘ zurückzukehren, trete ich am andern Tage meine schon seit längerer Zeit geplante Reise ins Ausland an. – Wollen Sie die Güte haben, dem Baron sowie Baroneß Ilse diesen meinen Entschluß zu übermitteln?
Mit bestem Dank Ihr sehr ergebener
Montrose.“
Ilses Augen irrten über die Zeilen hin, sie fing mechanisch immer von neuem zu lesen an. Der alte Leupold atmete kurz und gepreßt, ihm war außerordentlich unbehaglich bei der ganzen Sache. Wenn doch nur um Gotteswillen die Prinzeß Ilse keinen dummen Streich begehen möchte! Sie sah so merkwürdig verzweifelt aus, und aus Verzweiflung hat schon so manche ihr Schicksal besiegelt und dann lebenslang daran zu tragen gehabt.
„Doktor, Sie sind also davon durchdrungen, daß das da“ – Kapitän Leupold schlug nachdrücklich mit der flachen Hand auf den Brief – „meinem Schwager Doßberg das Leben wiedergiebt?“
Der Arzt hob die Schultern. „Ich sagte es ja: wir Menschen sind alle dem Irrtum unterworfen; aber soweit ich den vorliegenden Fall übersehen kann, ist Baron Doßberg auf dem besten Wege, am Heimweh zu Grunde zu gehen, und ich halte seine schleunige Rückkehr nach ‚Perle‘ für das einzige Mittel, dem vorzubeugen.“
Ilse stand von ihrem Sitz auf, sie wollte sprechen. Dem alten Leupold schnürte sich bei ihrem Anblick angstvoll das Herz zusammen. „Du sagst nichts!“ rief er gebieterisch und drückte sie in ihren Sessel zurück. „Du darfst nicht, ich erlaub’ es Dir nicht! Du sagst kein einziges Wort!“
Sie sagte auch kein Wort. Lautlos sank sie neben dem Sessel zu Boden.
Soeben war der Berliner Zug in St. eingetroffen, zwölf Uhr fünf Minuten mittags. Ein zweiter Zug, der schon auf dem Nebengeleise bereit stand, sollte binnen kurzem in entgegengesetzter Richtung abgehen. Diejenigen aus dem Berliner Zug, die nicht in fliegender Eile ans Büffett stürmten, standen einen Augenblick still oder wandten im Weiterschreiten den Kopf zurück, um lächelnd eine Gruppe von Offizieren zu betrachten, die auf dem Bahnsteig
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 318. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_318.jpg&oldid=- (Version vom 9.4.2024)