Verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
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Eigenleuten bin ich aufgewachsen und ein Bub’ geworden, der auf dem Karwendel die Geißen gehütet hat.“
„Ein Geißhirt!“ Schweiker seufzte und seine träumenden Augen blickten, er wußte selbst wohl nicht, wohin. Selbigsmal mußt Du es aber gut gehabt haben, gelt?“
„Als ich in das Kloster kam, hab’ ich in meiner kleinen Zelle wohl manche stille Zähre vergossen, wenn mein Aug’ die hohen Berge suchte. Aber mir wurde in dem frommen Haus mit jedem Tage froher ums Herz, und ich bin fleißiger Scholar geworden. Die Arbeit war mir Freude, und durfte ich über einem Buche sitzen, so war mir wohl. Nur eines störte das ruhige Gleichmaß meines Lebens: wenn die Väter und Brüder der jüngeren Mönche in das Kloster kamen oder wenn meine Schulgenossen zu hohen Feiertagen heimzogen in das elterliche Haus, das waren bittere Stunden für mich. Dann wurden meine Augen naß, und an heißer Sehnsucht schwoll mein Herz der Mutter zu, die ich nicht kannte, dem Vater, dessen Namen ich nicht nennen konnte. Hundert Gedanken, süß und dennoch schmerzlich, zogen in solcher Stunde durch meine Seele. Wo sollte meine Sehnsucht die Eltern suchen? Waren sie heimisch in jenem Thal, in dem ich gefunden wurde? Oder saßen sie im fernen Land? Hatte eine böse Hand mich ihnen geraubt oder Mißgeschick und Zufall mich von ihrem Herzen gerissen? Beweinten sie mich als verloren und tot oder hofften sie, ihr Kind im Leben noch einmal wiederzusehen? Trugen sie Weh und Schmerzen um mich oder hatten sie Trost gefunden in der Liebe zu Kindern, die ihnen verblieben waren? Hatte ich Brüder? Oder eine Schwester?“ Matte Röte floß über Eberweins Züge, seine feuchten Augen glänzten, und leise bebte seine Stimme. „Eine Schwester! Das hab’ ich oft gedacht und habe ihr trautes Bild mir vorgemalt: jung und hold, gut und liebenswert.“ Er streckte in tiefer Bewegung die Arme, als könnte er mit Händen greifen, was er sah in seinem Herzen.
Offenen Mundes und mit Augen, aus denen dicke Zähren kollerten, hing Schweiker an seines Herrn Antlitz. Es währte eine Weile, bis Eberwein wieder zu sprechen begann: „Zwanzig Jahre zählt’ ich, da ich als jung geweihter Priester aus dem Kloster zog. Doch eh’ ich hinauswanderte in das ferne Land, trieb es mich zum Eibinsee, zum Fischer Ostalar, der mich gefunden. Wohl war der Himmelsherr mein guter Vater geworden, die Kirche meine treue Mutter . . . doch in einem Winkel meines tiefsten Herzens brannte noch immer die Sehnsucht nach den Meinen. Es war eine helle laue Mondnacht, als ich den öden See erreichte, der zwischen schwarzem Wald und schwindelnd hohen Felsen gebettet liegt. In armseliger Hütte fand ich den alten Fischer. Er schlief und ich mußte ihn wecken. Nun saßen wir in der stillen Nacht, Mond und Sterne zu unseren Häupten, vor uns das schwarze regungslose Wasser. Zitternde Hoffnung in meinem Herzen, stellte ich Frage um Frage. Doch er schüttelte den weißen Kopf und sagte: ‚Laß das Fragen sein, ich kann Dir mehr nicht künden, als was Du lang’ schon weißt.‘ Ich merkte aber wohl an seinem Ton, daß er nicht die Wahrheit sprach. Und als ich mit Fragen nicht nachließ, ging er in die Hütte, brachte mir ein wertloses Stück Geschmeide und sagte: ‚Nimm, das hab’ ich nicht weit von dem Platz gefunden, an dem Du gelegen hast .... ob es Dir gehört oder einem anderen, das weiß ich nicht!‘ Mit nassen Augen starrte ich das stumme Rätsel an. Wenn es doch reden könnte! Ach, Schweiker . . . wohl zu taufend Malen seit jener Stunde hat meine ziellose Sehnsucht jene Worte gesprochen: wenn es doch reden könnte! Ist es mein Eigen? Stammt es aus dem Hause der Meinen? Ich weiß es nicht. Seit jener Stunde aber trag’ ich das Kleinod an meinem Herzen; mag es auch so wertlos sein daß es kein Bettler von der Straße nähme ... meinem Herzen macht es der Glaube teuer, daß es ein Glied der gesprungenen Kette ist, die mich an die Meinen knüpfte.“ Eberwein drückte die Hände auf seine Brust, an welcher er das ungelöste Rätsel seiner Herkunft unter der Kutte verwahrt trug, mit dem Zeichen seiner priesterlichen Weihe, dem Kreuz, zusammen an eine Schnur gebunden.
„Es dämmerte der Morgen, als ich den stillen See verließ. Eine Strecke gab mir der alte Fischer das Geleit, und als ich von ihm scheiden wollte, legte er die Hand auf meine Schulter und sprach: ‚Eines noch muß ich Dir sagen! Was ich dem Knaben allzeit verschwiegen hab’, das wird der Mann, der Du geworden bist, wohl hören können!‘ Ach, Schweiker, erschütternde Kunde war es, die ich vernehmen mußte! Nicht weit von der Stelle, an welcher der alte Fischer das wimmernde Kind auf seine Arme gehoben, hatte er den zerfleischten Leichnam eines Weibes gefunden, das Opfer der hauenden Schweine, deren Zähnen wohl auch das wehrlose Kind verfallen wäre, hätte nicht der Schrei des mutigen Mannes sie verscheucht. Wer war dieses Weib? Meine Mutter? Wie der Tag sich scheidet von der Nacht, so drängte ich diesen grauenvollen Gedanken aus meiner Seele. Wer war dieses Weib?“
„Vielleicht Deine Hüterin, Herr?“ fiel Schweiker mit stammelnden Worten ein, „oder ein fahrendes Weib, das Dich gestohlen hat!“
„So dachte auch ich! Denn in meinem Herzen schrie eine Stimme: Deine Mutter lebt . . . suche, suche! Wohin aber meine Schritte wenden? Ich wußte es nicht. Ziellos wanderte ich im grauen Morgen auf der Straße dahin, Feuer in meinem Herzen, einen Wirbel in meiner Seele. Es ging der Wald zu Ende und Felder kamen. Am Rande des Gehölzes sah ich eine arme Frau, die sich schleppte mit einem schweren Reisigbündel, keuchend und seufzend. Was kümmerte mich das fremde Weib und seine Bürde . . . trug ich nicht selbst auf meinem Herzen eine Last, noch drückender und schwerer? Ich eilte an der Armen vorüber, doch das Bild ihrer Mühsal wollte mich nimmer verlassen. Und quälend erwachte ein Gedanke in mir. Du suchst Deine Heimat, schrie es in meiner Seele, und willst in der Ferne suchen? Wer weiß, ob Dir nicht nahe liegt, was Du suchen gehst, näher, als Du ahnen magst. Wer weiß, ob nicht dieses Weib Dir Kunde geben könnte! Und ist Dir dieses Weib denn wirklich eine Fremde? Kannst Du denn wissen, ob sie nicht zu Deiner Sippe gehört, ob nicht Blut von ihrem Blut in Deinen Adern rinnt? Und Du zogst vorüber an ihr und ließest sie seufzen unter Mühsal und Bürde . . . kehr’ um, kehr’ um! So rief es in mir, und ich eilte zurück, hob die Last der Armen auf meine Schulter und trug ihr das schwere Bündel bis zum Hagthor. Sie hatte nicht Antwort auf meine Fragen und wußte von keinem verlorenen Kind; ihr Dank aber hatte warmen Klang; freundlich sahen ihre Augen mich an, und ich zog meiner Wege, als hätt’ ich Trost empfangen, als wäre die Bürde meines Herzens leichter geworden um gute Pfunde. Und sieh, Schweiker: wie mit diesem armen Weibe, so ist es mir von Stund’ an mit jedem Menschen ergangen, den ich schwanken und seufzen sah unter einer Bürde des Lebens. Hilf’, hilf’, Du hilfst den Deinen – rief immer wieder die Stimme in mir, und ich mußte lieben, die ich leiden sah, und konnte jenen nicht zürnen, die mir Uebles thaten. Oft wallte mir das Blut in heißem Zorn, denn mehr als einmal hab’ ich Undank erfahren, wo ich Wohlthat übte, und Spott empfangen, wo ich Liebe gab – aber je heißer mein Zorn erwachte, so lauter rief die Stimme in mir: Vergieb, es könnte Dein Bruder sein, wider den Du stehen willst in Zorn und Streit!“
„Und nie, Herr, nie hast Du ’was erfahren von den Deinen?“
„Ich weiß auch heute nicht mehr von ihnen als in jener Stunde, in der ich den alten Fischer verließ. Und längst schon hab’ ich das Suchen aufgegeben, meine Sehnsucht wurde stiller von Jahr zu Jahr, denn ich meinte, Gottes Willen zu erkennen. Er hat mich berufen zu seinem Dienst und hat mir die Meinen genommen, um meiner Liebe tausend Brüder und Schwestern zu geben.“
„Alle Menschen? Gelt, Herr? Und keiner soll ausgeschieden sein von Deinem Herzen?“
Eberwein schüttelte den Kopf und wollte sprechen. Da kam Bruder Wampo in das Kirchlein und rief: „Ich bitt’ Dich, guter Herr, komm doch ein lützel, der arme Bub’ verlangt nach Dir. Er hat gemeint, er könnt’ schon wieder laufen . . . und jetzt rinnt ihm das Blut unter dem Leinen heraus.“
Eberwein war aufgesprungen. „Wazemann!“ klang es in aufflammendem Zorn von seinen Lippen. „Ja, Schweiker! Dieser einzige von allen, er und seine Söhne . . . sie sollen geschieden sein von meiner Liebe! Ich will diesem Thal ein treuer Hirte sein . . . wie dürft’ ich die Wölfe lieben, die meine Lämmer schlagen!“
„Recht, Herr, recht hast Du!“ fiel Schweiker ein, während dunkle Röte sein Gesicht übergoß. „Und derselbig’ von ihnen, den sie Henning nennen, der soll aufgehoben sein für meine Fäust’!“ Eberwein hörte diese Worte nicht mehr, er hatte mit Wampo die Klause betreten. Schweiker packte den Hammer, begann seine Arbeit wieder und hämmerte drauf los, als fiele jeder Schlag, mit dem er die hölzernen Nägel in die Balken trieb, auf Hennings Schädel. Dazu redete er mit halblauter Stimme: „Wart’ nur! Ich will Nächstenlieb’ üben, rechte und feste Nächstenlieb’! Aber einer ...“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_391.jpg&oldid=- (Version vom 4.2.2021)