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Seite:Die Gartenlaube (1894) 398.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

sollte es nicht für möglich halten, daß das alles in dem überaus kurzen Zeitraum eines einzigen Vierteljahrhunderts aus trostlos ödem Sumpf und Sand erstanden ist. Die Gründung und das Wachstum von Deutschlands jüngster Stadt ist ein Werk von zielbewußter Kühnheit und zugleich ein Beispiel von zäher Ausdauer unter unerhörten Schwierigkeiten, ein Beispiel, welches wohl verdient, vom deutschen Volke im Gedächtnis behalten zu werden.


Ein Sonntagskind.

Zum fünfundzwanzigjährigen Schauspielerjübiläum Alexander Girardis.
(Mit Bildnissen S. 389.)


Im Süden der Steiermark, unweit von Kroatien, liegt ein Kurort, der heißt Rohitsch-Sauerbrunn, oder, wie ihn Sanitätsrat Dr. Hoisel gern nennen hört, das „steirische Karlsbad“. Dort stand vor 25 Jahren noch kein Theater und heute steht gleichfalls noch keins dort. Aber wie heute gaben schon vor 25 Jahren wandernde Truppen im Kursaal ihre Vorstellungen – zur Kurzweil eines „hohen Adels und der übrigen Kurgäste“.

In Graz, der steirischen Hauptstadt, lebte vor einem Vierteljahrhundert ein junger Schlossergeselle. Den überkam die Lust zum Theater. Ratbdem er auf einer Liebhaberbühne Blut geleckt hatte, war seine Begierde nicht mehr zu stillen. So verließ er denn eines Tages Hammer und Ambos und wanderte südwärts. In Rohitsch-Sauerbrunn, dem steirischen Karlsbad, durfte er sich schon Berufsschauspieler nennen. Dort las er – am 12. Juni 1869 – mit stiller Seligkeit seinen Namen zum erstenmal auf einem wirklichen Theaterzettel. Dieser Name hieß Alexander Girardi.

Der nächste Sommer fand den jungen Komiker schon im richtigen, im „böhmischen“ Karlsbad, und nach kurzem Aufenthalte in Salzburg und Ischl wurde er im Jahre 1871 für das damalige Strampfertheater in Wien angeworben. Josephine Gallmeyer, Felix Schweighofer und Alexander Girardi wirkten nun hier als ein lustiges Kleeblatt; aber während sich Schweighofer seine Erfolge von jeher durch bewußte künstlerische Arbeit verdient hat, brauchten die Gallmeyer und Girardi nur zu kommen und gesehen zu werden, um zu siegen. Die geniale „Pepi“ hat sich von ihren Erfolgen völlig berauschen lassen. Mit tollem Uebermut ist sie lachend durchs Leben getanzt, gleichsam der Welt die Zunge heraussteckend – Girardi besitzt ein Bild von ihr in dieser Stellung – und sie hat es so lange getrieben in ihrem genialischen Leichtsinn, bis sie tragisch zu Grunde ging. Der lustige „Xandl“ hingegen hat den Bogen nie zu straff gespannt, ist einfach geblieben in seinen Sitten, hat seine Vergangenheit als Schlosserlehrling niemals verleugnet; ohne sich damit zu brüsten, war er stets hilfreich gegen arme Freunde, stets dankbar gegen seine Gönner, hat seine Pflichten als Sohn, als Bürger und als Künstler allezeit erfüllt, hat mit der Volksgunnst nie gespielt und hat sie deshalb nicht verscherzt.

Seit zwanzig Jahren gehört Alexander Girardi dem „Theater an der Wien“ als Mitglied an, seit zwanzig Jahren verbürgt sein Name auf dem Zettel ein gut besuchtes Haus. Seit mehr als zwanzig Jahren ist Girardi ein Liebling der Wiener; seit jeher ist er ein Sonntagskind. Und wenn er anfangs etwa nur als stimmbegabter Spaßmacher gelten durfte, gebührt ihm heute als einem echten, wahrhaftigen Künstler unsere Bewunderung.

Als ich vor etwa zwölf Jahren Girardi kennenlernte, bewohnte er mit seinem alten Mütterchen ein paar niedrige, schmucklose Zimmer in einem Wiener Vorstadtgasthofe. Erst als er nach dem Abgange des Direktors Steiner selbst in die Leitung des „Theaters an der Wien“ berufen wurde – eine Würde, die er sehr bald darauf als lästige Bürde wieder von sich warf – bezog er eine großstädtische Wohnung. Und heute, nachdem er sich die berühmte Schauspielerin Odilon zur Gattin erwählt, bewohnt Girardi ein Künstlerheim, wie es reizender kaum gedacht werden kann. An den Wänden seines Arbeitszimmers hängen, dicht gedrängt, Maskenbilder der Komiker Nestroy, Scholz und Beckmann in ihren hervorragenden Charakteren. Und die Bildnisse berühmter Tragöden unserer Zeit mit ihren Widmungen beweisen, daß diese den heiteren Berufsgenossen voll zu schätzen wissen. Der Wiener Lustspieldichter Eduard v. Bauernfeld schrieb unserem Künstler mit zitternder Hand das Verslein:

„Ein guter Komiker ist rar,
So ein Charakteristiker nun gar!“

Noch andere Ritter vom Geiste sind in Girardis Bildergalerie vertreten: zahlreiche Schriftsteller und Tondichter, deren Werken er zum Siege verholfen hat, von Rubinstein finden wir ein karikiertes Bildnis mit eigenhändiger Widmung. Eine andere Karikatur erregt besondere Aufmerksamkeit; sie entstammt der Meisterhand des Walzerkönigs Johann Strauß.

Aber in so viel heitere Erinnerungen mischen sich auch wehmütige. Solche werden vor allem wachgerufen durch ein Reliefbild von Girardis Mutter, bei dessen Anblick der Künstler Trost in dem Gedanken schöpfen mag, daß er bis ans Ende alles gethan hat, was in seinen Kräften stand, um der guten alten Frau das Leben zu verschönern. Wehmütige Erinnerungen knüpfen sich auch an die Reliquien von Ferdinand Raimund und an ein Bildnis des Komikers Matras, das dieser seiner Freundin Gallmeyer zum Geschenk machte, als sein Geist schon umnachtet war. Eine der besten Rollen des verewigten Matras war der Schuster Weigel in dem Volksstück „Mein Leopold“ – ein Charakter, den seither auch Girardi meisterhaft dargestellt hat – und ergreifend wußte Matras das kleine Couplet vorzutragen mit dem Refrain „So einfach und bescheiden!“ Dessen gedachte nun der Arme, als er, des Verstandes beraubt, sich mühte, eine Widmung auf sein Bild zu schreiben. In stolpernder Schrift, mit mehrfacher Verbesserung finden wir ein paar gänzlich sinnlose Zeilen hingekritzelt, dann aber zum Schluß: „So einfach und bescheid . . .“

Mitten im Worte bricht die Widmung ab.

Es scheint mir bezeichnend für Girardis menschliche Eigenart, daß er neben zahllosen Zeichen seiner Triumphe auch einem solchen Memento in seinem Arbeitszimmer Platz gewährt: einer Mahnung, über die glanzvolle Gegenwart der ungewissen Zukunft nicht zu vergessen. Das Alter wird ihn wohlgerüstet finden, und als Greis wird er noch Freude haben an den Beweisen von Liebe und von Bewunderung, die heute schon in seiner Wohnung zuhauf gestapelt sind. Dem Kunstgewerbe hat der einstige Schlossergeselle Arbeit genug vermittelt. Girardis Masken gaben den Vorwurf zu reizvollen Werken der Kleinkunst in Terrakotta, in Gold und in Silber. Sein Bildnis ziert allerlei Dosen; selbst auf Wandschüsseln finden wir seine Züge verewigt. Einen eigenen Kasten füllen die Cigarrentaschen, die ihm von Mitgliedern des Kaiserhauses, sowie von zahlreichen Freunden verehrt worden sind. Künstlerisch ausgestattete Adressen und silberne Lorbeerkränze ergänzen das Museum des Künstlers. Eine Fülle reichgezierter Bandschleifen zeugt von der Leistungsfähigkeit des Wiener Stickereigewerbes. Die Goldschmiedekunst ist vertreten durch vielgestaltiges Schmuckgerät, auch durch die Orden, die dem Komiker verliehen worden sind und denen sich nunmehr die goldene Salvatormedaille der Stadt Wien zugesellt hat. Mitten unter diesen Trophäen einer ruhmvollen Künstlerlaufbahn finden wir die Mütze, die Girardi als Schlosserlehrling getragen, den Ambos, auf dem er gehämmert, und eine Eisenstange, die er geschmiedet hat.

Um den Wienern die Freude zu gewähren, ihren Lieblingskomiker auch einmal in der Schlosserwerkstatt zu sehen, hat man vor Jahren eine Operette verfaßt, die den Titel „Der Schlosserkönig“ führt. Girardi spielt darin einen Schlosser, der mit theatralischer Geschwindigkeit zum König befördert wird. Das entbehrte zwar nicht eines persönlichen Reizes, aber zu den großen Künstlerthaten Girardis darf die Operettenfigur nicht gerechnet werden, so wenig, wie seine Leistung im „Sonntagskind“; doch da er selber ein Sonntagskind ist, sei auch seine Maske aus jener Operette vorgeführt.

Zu Girardis großen Kunstleistungen gehört vor allem der Valentin im „Verschwender“. Das unvergänglich schöne Zaubermärchen Ferdinand Raimunds wurde auch bei der Jubiläumsvorstellung am 31. Mai zu gunsten des Wiener Schriftsteller- und Journalistenvereins „Concordia“ aufgeführt. Diese Wahl ehrt unseren Künstler. Denn die Rolle des Valentin bietet keine Gelegenheit, die schauspielerische Wirkung in billigen Kunstgriffen zu suchen, sie erfordert vielmehr echten Humor, künstlerische Einfachheit und weise Mäßigung. Girardi erfüllt diese Forderungen. Seine Darstellung ist die eines wahrhaftigen Volksschauspielers im besten Sinne des Wortes. Gleiches gilt von seinem Schuster Weigel in „Mein Leopold“ von L’Arronge. Das Protzentum des unwissenden Emporkömmliags vermittelt er uns ebenso glaubwürdig wie die Reue des schwer geprüften Greises.

Wer den Künstler in derartigen Charakterrollen gesehen und bewundert hat, mag es kaum für möglich halten, daß er als jugendlicher Gesangskomiker auf gleicher Höhe steht. Aber ich glaube, der verbissenste Hypochonder muß erheitert werden, wenn Girardi als lustiger „Vogelhändler“ in Zellers sanglicher Operette mit seiner aus tiefstem Innern quellenden Frohlust „alle miteinander“ begrüßt.

Den größten Sieg im letzten Jahrzehnt erspielte sich der Jubilar mit dem ungarischeu Schweinezüchter Zsupan im „Zigeunerbaron“ von Johann Strauß. Wenn die melodienreiche Operette mehr als hundert Mal über die Bretter des „Theaters an der Wien^ gegangen ist, so hat Girardi seinen guten Teil an diesem Erfolge. Seine groteskkomische Maske wurde glaubhaft durch ebenso humorvolle als naturtreue Darstellung. Auch die jüngste Operette des Walzerkönigs, „Fürstin Ninetta“, gab unserem Komiker wieder Gelegenheit, sich in der ganz eigenartigen Figur des Kassim Pascha auszuzeichnen, .dessen Maske wir gleichfalls vorführen. Von andern Operettencharakteren sind nach „Der arme Jonathan“, „Rip-Rip“ und der „Hofnarr“ hervorzuheben. In den beiden letztgenannten Operetten fand unser Komiker auch tragische Accente. Als Hofnarr zeigte er den Meister der Deklamation; als Rip-Rip stellte er eine König Lear-Gestalt auf die Bühne.

Daß Girardi gute Masken zu machen versteht, erkannte man recht deutlich, als er in dem Potpourri „Die Wienerstadt in Wort und Bild“ fünf verschiedene Rollen spielte: einen Kraftmeier, einen Gigerl, einen Wiener „Pülcher“ (Wegelagerer, Strolch, mit dem Nebenbegriff der Ungefährlichkeit), einen Sicherheitswachmann und einen alten Offizier. Neben mir saß ein biederer Provinzler, der in jedem Bilde die Frage an mich richtete: „Wer ist denn dieser Schauspieler?“ Er wurde grob, als meine Antwort immer wieder lautete: „Girardi“.

Den Wienern freilich ist der jugendliche Jubilar vornehmlich deshalb so lieb und wert, weil er trotz aller Verwandlungsfähigkeit, trotz allen Eindringens in verschiedene Charaktere doch seine Natürlichkeit und seine Eigenart nicht preisgiebt. Und darin liegt das Kennzeichen für eine starke schauspielerische Persönlichkeit, daß der Künstler die Wirkungen des Scheines erreicht, ohne sein eigenes Ich zu verleugnen. Girardi verirrt sich nicht in leerer Künstelei; immer wieder schöpft er aus den Quellen der Natur, wie sie sich im Wienerischen Volkstum offenbart. Wer also diesen Komiker nicht begreift, der hat das Wiener Volkstum nicht begriffen. Mag es immerhin solche Leute geben: Girardi sei und bleibe ein Liebling der Wiener – ein echtes Sonntagskind. Gerhard Ramberg.     

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 398. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_398.jpg&oldid=- (Version vom 26.6.2023)
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