Verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
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anders geworden; nachdem das Lesen im Laufe der Zeit zum gewöhnlichen täglichen Bedürfnis geworden ist, wird auch der Wunsch rege, es leichter zu gestalten. Den alten Alphabeten fehlen leitende Gesichtspunkte, sie sind ein reines Werk der Willkür; die Lautzeichen der Zukunft werden sich den Gesetzen anpassen, nach welchen wir überhaupt Zeichen mit dem Gesichtssinne wahrnehmen und auffassen. Betrachten wir diese Gesetze näher, so enthüllen sich uns von selbst die Grundlinien eines Alphabets der Zukunft.
Vor einiger Zeit haben Goldscheider und Müller in Berlin sehr lehrreiche Beiträge zur „Physiologie des Lesens“ veröffentlicht. In ihren Versuchen machten sie verschiedene Zeichen und Buchstaben gleichfalls 1/100 Sekunde lang den Blicken des Lesers sichtbar. Zunächst richteten sie ihre Beobachtungen auf die Wahrnehmbarkeit gerader Striche, und es stellte sich heraus, daß vier Striche, die in beliebiger Anordnung zu einander gestellt waren, bei einmaliger Betrachtung in der Zeit von 1/100 Sekunde richtig erkannt wurden. Wurden fünf Striche vorgeführt, so konnte der Leser sie nicht sofort erkennen; in seinen Angaben über das, was er gesehen, machte er nach der erstmaligen Beobachtung Fehler, die er erst bei der zweiten oder dritten Beobachtung verbessern konnte. Die Unsicherheit der Auffassung wuchs mit der Zunahme der Zahl der Striche. es ist aber hervorzuheben, daß mehr als vier Striche auf den ersten Blick von 1/100 Sekunde Dauer richtig erkannt werden konnten, sobald sie eine symmetrische Anordnung hatten, wie z. B. die nachfolgenden sieben Striche: | ǀ | | | ǀ |
Quadrate von gleicher Größe waren schwieriger als Striche zu erkennen, indem bei einmaliger Beobachtung nur 2 bis 3 Quadrate sofort in ihrer Zahl und gegenseitigen Anordnung richtig aufgefaßt wurden. Mehr Quadrate konnten erst nach mehrmaliger Beobachtung richtig erkannt werden, wohl aber sofort auf den ersten Blick, wenn sie in eine symmetrische Anordnung gebracht wurden, wie z. B. die nachfolgenden 5 Quadrate: □ □ □ □ □
Wir erfahren daraus, daß das Gesicht ähnlich auf Eindrücke reagiert wie das Gehör: mehr als 4 bis 5 Schalleindrücke kann man nicht richtig schätzen, wenn sie in sehr kleinen gleichmäßigen Zwischenpausen aufeinanderfolgen; wohl aber gelingt uns dies, wie Wundt nachgewiesen hat, selbst bei 40 aufeinanderfolgenden Glockenschlägen, sobald sie symmetrisch geordnet werden oder rhythmische Gruppen bilden.
Diese Thatsachen sind sehr beachtenswert.
Wir bedienen uns heute des Rhythmus nur in der Kunst, in der Poesie; im täglichen Leben hat er keine praktische Bedeutung. Und doch hat er einmal eine solche gehabt, in der alten Vorzeit, da die Schrift noch nicht erfunden oder noch nicht volkstümlich geworden war. Vor der Erfindung der Schrift mußte das Gedächtnis mehr als heute in Anspruch genommen werden; was wir heute in Büchern für spätere Geschlechter niederlegen, mußte früher im Gedächtnis der Menschen fortleben. Da erwies sich die rhythmisch gebundene Sprache als ein großes, bewundernswertes Hilfsmittel. In rhythmischen Gesängen pflanzten sich Volkssagen und Heldengeschichten von Jahrhundert zu Jahrhundert fort, bis sie niedergeschrieben und schließlich gedruckt werden konnten. Heute hat der Schiffskapitän ein geschriebenes Verzeichnis der Waren, die er auf seinem Schiffe führt; die ältesten Händler im Mittelländischen Meere pflegten das Warenverzeichnis im Kopfe zu tragen; sie, die nicht schreiben konnten, dichteten für die Handelsfahrt das Verzeichnis in der ihnen geläufigsten rhythmischen Form. Diese Hilfsmittel sind überflüssig geworden, seitdem die Menschen sich auf ihre Bücher und Zettel verlassen können, die sie in feuersicheren Schränken aufbewahren oder durch den Druck vervielfältigen.
Die lesende Menschheit erstrebt indessen eine höhere Kulturstufe; immer größer wird der Gesichtskreis, der sich ihrem Geiste eröffnet, immer höher werden die Ansprüche, welche an das Gehirn, an die geistige Thätigkeit gestellt werden, und so entsteht der Wunsch, die häufigsten geistigen Bethätigungen einfacher, weniger mühevoll zu gestalten.
Betrachten wir nun von diesem Standpunkte unsere Buchstaben, unsere Lautsinnbilder. Wie schon gesagt, sind sie durch kein einheitliches Gesetz geordnet, vielmehr reine Erzeugnisse der Willkür. Im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende hat man sie geändert, aber beileibe nicht verbessert. Betrachten wir nur die lateinische Schrift! Wie wissenschaftliche Versuche lehren, erkennen wir die Buchstaben wesentlich an den dicken Linien. Das alte Alphabet der Römer hatte lauter dicke Linien – wir haben die Schriftzeichen vielfach zierlicher gemacht und wenden beim Druck Zusammenstellungen von dicken und dünnen Linien an, aber dadurch erschweren wir dem Auge das Erkennen der Buchstaben und machen uns das Lesen schwerer. Man hat im Mittelalter das lateinische Alphabet verschönern wollen und hat die deutsche Frakturschrift geschaffen, die im gesundheitlichen und praktischen Sinne einen Rückschritt bedeutet. Da wir mehr als unsere Vorfahren lesen müssen, so empfinden wir jetzt die Uebelstände der Schrift und möchten sie, kurzsichtig und nervös geworden, verbessern, möchten das Auge und das Gehirn von aller unnötigen Arbeit entlasten.
Man hat vorgeschlagen, die schwer lesbaren und leicht zu verwechselnden Buchstaben durch andere, deutlichere zu ersetzen.
In welcher Weise müßte dies geschehen? Durch willkürliche Abänderungen wird wenig erreicht. Wie die Urvölker die Sprache in rhythmische Formen zu zwingen wußten, so werden wir in die regellosen Buchstaben Symmetrie hineinbringen müssen; denn die neueren Forschungen haben, wie oben ausgeführt, das Gesetz enthüllt, daß durch Symmetrie die Auffassung vielfacher und verwickelter Gesichtseindrücke erleichtert wird. Auch die Verlängerung der Buchstaben über oder unter die Schriftlinie dürfte in einem verbesserten Alphabet nicht so regellos und willkürlich sein, wie dies in dem heutigen der Fall ist.
Bevor aber solche Aenderungen mit Aussicht auf Erfolg vorgeschlagen werden, muß die noch vielfach dunkle Wissenschaft von der Natur des Lesens weiter ausgebaut werden; dann wird ihr wohl auch mit der Zeit eine Lösung der Frage gelingen. Wir glauben nicht, daß die Mitlebenden die vollen Früchte dieser Arbeit ernten werden, die alten Alphabete werden uns und unsere Kinder überdauern; aber unsterblich sind die heute herrschenden Buchstaben nicht; sie haben ihre Vorgänger gehabt und sie werden einmal dem vollendeteren praktischeren symmetrischen Alphabet der Zukunft weichen müssen.
Aber wir sollten nicht vergessen, daß im Rahmen der heute gegebenen Schrift sich manche Verbesserung anbringen ließe, welche beim Lesen eine Ersparnis an Nerven- und Geisteskraft zur Folge haben würde. Wir lassen die Ersetzung der deutschen Schrift durch die leserlichere, lateinische unerörtert, die Frage ist oft besprochen, aber leider nicht immer von rein gesundheitlichem und praktischem Standpunkte entschieden worden. Aber man sollte wenigstens beachten, daß der Gebrauch zweier Arten von Buchstaben, großer und kleiner, Auge und Gehirn eher anstrengt als entlastet, man sollte nicht vergessen, daß alle Verzierungen und Schnörkel der Auffassung in hohem Grade hinderlich sind, ebenso, daß dünne Linien das Erkennen der Buchstaben erschweren. Auch einer zweckmäßigen Abänderung der leicht zu verwechselnden Buchstaben würde nichts im Wege stehen. O und Q werden so oft verwechselt; wenn wir anstatt Q als neues Zeichen Φ wählen würden, würde die Verwechslung mit O, C und G geradezu ausgeschlossen sein, und doch würde es sich dabei nur um eine zweckmäßige Verlegung des Querstriches in dem Buchstaben handeln. A wird, wie die Versuche von Catell ergaben, sehr häufig mit X, V und N verwechselt. Daran ist der Umstand schuld, daß diese vier Buchstaben eine gleich geneigte dicke Linie haben, die am meisten auffällt, während die dünnen Linien übersehen werden. Diese Irrungen würden vermieden werden, wenn man den Buchstaben mit zwei dicken Schenkeln ᗅ drucken wollte, denn dann würde der Eindruck des dem A eigentümlichen Winkels beim ersten Blick vorwiegen.
Es kommt aber nicht nur auf die Gestalt der Buchstaben, sondern auch auf deren Gruppierung zu Wörtern an. Goldscheider und Müller stellten fest, daß man vier Buchstaben bei einmaliger Betrachtung von 1/100 Sekunde Dauer richtig erkennen konnte, selbst wenn sie keinen Sinn ergaben, wie z. B. m r i n. Sollten fünf Buchstaben in derselben Zeit gelesen werden, so wurden bereits Fehler gemacht, selbst wenn die Buchstaben ein Wort ergaben. Je länger das Wort war, desto größer wurden die Schwierigkeiten des Erkennens. Das Wort erblich wurde bei der ersten Betrachtung erblio, bei der zweiten erblic und erst bei der dritten richtig gelesen.
Beim Lesen von Wörtergruppen oder Sätzen wurde die Beobachtungszeit auf 3/100 Sekunden erweitert. „Eintritt streng verboten“ wurde von sämtlichen Versuchspersonen beim ersten Male richtig gelesen, also konnten 22 Buchstaben in 3/100 Sekunden erkannt werden. In Wirklichkeit aber wurde das Ganze erraten;
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_400.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2021)