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Seite:Die Gartenlaube (1894) 422.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Ein Brief.

Novelle von A. Godin.
(Schluß.)

Johanna war seit Stunden in ihrem Schlafzimmer, ohne sich auszukleiden, ohne das ruhelose Auf- und Niedergehen zu unterbrechen, das sonst so gar nicht in ihrer Art lag. Ihre Stirn glühte, ihre Pulse hämmerten, sie fühlte sich keines klaren Gedankens fähig. Nur zwei Sätze schwirrten, einander unablässig ablösend, durch ihr Gehirn, quälten und marterten sie. Eine Erinnerung, ein Wort Goethes stand ihr plötzlich unbegreiflich im Sinn: „Denn so ist die Liebe beschaffen, daß sie nur allein Rechte zu haben glaubt,“ und dann ein anderes Wort: „Ich bin in Deiner Gewalt.“ Dies letzte aber nicht als Echo der Stimme, die sie heute so weit fortgerissen hatte, nein, es war ihr eigenes Herz, das fortwährend schrie: ich bin in Deiner Gewalt! Sie war es, sie selbst, die in fremder Gewalt stand. Wie ein Stein kam sie sich vor, den ein entschlossener Fuß unwiderstehlich ins Rollen gebracht hatte – wohin? Sie preßte ihre kalten Hände gegen die pochenden Schläfen, hielt mit einem Male den Schritt an und blieb vor Armstrongs Brustbild stehen, das im vollen Schein der Hängelampe wie lebend aus dem Rahmen blickte. Ja, das war er – seine breite Stirne mit dem schlicht darüber liegenden dunkelblonden Haar, die ruhigen grauen Augen, der feste Mund, dessen Güte voll zum Ausdruck kam, sobald er sprach, und sich in den Winkeln dieses entschlossenen Mundes schon verriet.

Man sagt, in der Stunde des Scheidens ziehe am inneren Blick eines Sterbenden der Inhalt seines ganzen Lebens vorüber. Aehnliches vielleicht glitt jetzt durch die hochgespannte Seele der jungen Frau – Bild um Bild: die erste Begegnung in ihres Vaters Hause in Boston, Armstrongs Wiederkommen, seine Werbung, die sie völlig überrascht, doch ebenso erfreut hatte, das Ja, das ihr freies Herz willig gab, dann der Einzug in sein Haus, dessen Wohlstand ihre Erwartungen weit übertraf. All das stand deutlich vor ihrem Erinnern, deutlicher als die darauf folgenden Jahre. Glückliche Jahre? Gewiß, wenn Seelenfriede, wenn ein edelgesinnter Gefährte, wenn schöne Freiheit ein Weib glücklich zu machen vermögen. Hatte sie an seiner Seite je etwas vermißt? O, doch! Sie hatte entbehrt als eine Natur, der es nicht gewährt ist, sich voll auszuleben, die immer spürt, daß etwas in ihr brach liegt, das niemand begehrt. Ob Armstrong, der sein Weib innig und treu liebte, der so weit zu blicken verstand, diese Lücke je wahrgenommen hatte, wußte sie nicht einmal. Gut und liebreich war er allezeit gewesen, voll Fürsorge und Aufmerksamkeit für jeden ihrer Wünsche, und so herzlich vertrauend. Und sein Lohn dafür sollte sein, daß sie nun von ihm ging, ihn treulos allein ließ? Widersinnig, völlig unmöglich kam ihr das in diesem Augenblick vor. Sie sollte ihm schreiben – ja, was? Wie das alles gekommen sei – wie war es nur über sie gekommen? Ihre Gedanken irrten zurück bis zum Tage, da Gerhard schied. Wie still war es damals in ihr, wie fern stand sie dem andern noch, der sie nun aus sicherem Hafen auf stürmendes Meer drängte! Ganz tiefsinnig stand sie da, sann der Zeit, den Tagen und Monaten nach, und als sie sich so grübelnd daran verlor, stand plötzlich ein zwingendes Bild zwischen ihr und der Vergangenheit, die vor ihr zerrann. Sie fühlte ihre Hände von starken Händen gefangen, sie fühlte den heißen, besitzergreifenden Kuß auf ihren Lippen. Wonniger Schauer durchrieselte sie: „Ich bin in Deiner Gewalt!“ Auf die Lehne eines Sessels gestützt, schloß sie die Augen – dies Feuer in ihr mußte flammen – es ersticken, war Tod.

Johanna blieb eine kurze Weile regungslos, trat dann entschlossenen Schrittes in das anstoßende Zimmer und zündete Licht an. Ohne Hast, mit sicherer Hand rückte sie eine auf dem Schreibtisch liegende Mappe zurecht und begann zu schreiben. Bogen um Bogen füllte sich mit der Beichte all ihrer Gedanken, Worte und Werke. Sie verschwieg keine Regung und klagte sich doch nicht an – sie schrieb, als löse in der That eine unbezwingliche Macht, gleich der des Todes, sie vom gestrigen Leben. Sie schrieb im Vollgefühl des Schmerzes um ihn, den sie verlassen wollte, von dem sie mit gleicher Trauer Abschied genommen hätte, wäre ihr letzter Augenblick wirklich da gewesen, im Gefühl, daß doch kein Sträuben etwas ändern könne, daß sie ebenso willenlos aus diesem Leben scheiden müsse, wie man willenlos in das Leben tritt.

Ohne die Blätter zu überlesen, schloß Johanna sie ein. Es schlug zwei Uhr morgens – der Tag, an dem dieser Brief seinen verhängnisvollen Weg antreten sollte, war bereits angebrochen. Einen Augenblick durchzuckte sie der erlösende Gedanke, daß sie ja nur zu wollen brauche, um noch in dieser Nacht aller Seelennot für ewig zu entrinnen, sie brauchte ja nur zu gehen, dorthin, wo es still ist und kühl. Lockend, versuchend trat die Vorstellung ihr nahe, ganz nahe. Doch nein, das war ein feiger Gedanke, das durfte nicht sein!




Wenige Tage nach Absendung des schicksalschweren Briefes erkrankte die Tante und verlangte dringend nach ihrer eigenen Wohnung. Der gerufene Arzt stellte ein Fieber fest, über dessen weitere Entwicklung sich zur Zeit noch nichts sagen lasse, und riet zu sofortiger Uebersiedlung. Unter diesen Umständen blieb Johanna nichts übrig, als gleichfalls in ihr Stadthaus zurückzukehren. Noch auf der Insel zu bleiben, wäre jetzt ebenso auffallend als lieblos gewesen. Doch fügte sie sich diesem Zwang äußerst ungern. In der Stadt ließ sich die Abrede, bis zum Eintreffen von ihres Mannes Antwort jede Begegnung mit Ruhdorf zu vermeiden, kaum durchführen. Das Comptoir befand sich im Hause selbst.

Mit schwerem Herzen fuhr die junge Frau, nachdem sie die Kranke in deren Wohnung untergebracht und versorgt hatte, nach dem eigenen, in einer stillen Seitenstraße gelegenen Hause. Dieses glich in keiner Weise den stolzen Palästen vieler Kaufherren der großen Handelsstadt, mehr im Stil eines altenglischen Landhauses erbaut, lag es etwas zurück von der Straße in einem schattigen Garten. Die mit Purpurblättern umrankten Säulen des Portals sahen, in der vollen Beleuchtung der Oktobersonne, gleichsam festlich aus; ihr farbiger Schimmer that Johanna wehe, so wenig ihre Augen und Gedanken auf Aeußerliches gerichtet waren.

In der Halle trat ihr Ruhdorf nebst einigen Bediensteten begrüßend entgegen; sie erwiderte, indem sie sich sehr zusammennahm, gelassen seinen Gruß, vermied aber seinen Blick. Den größten Teil der folgenden Tage brachte Johanna im Hause der Tante zu, deren Zustand sich indessen rasch besserte. Am vierten Tag, als die junge Frau gegen Mittag abgespannt in ihrem Zimmer saß, ließ Ruhdorf sich melden und folgte dem Diener fast auf dem Fuße. Auf den ersten Blick sah Johanna Briefschaften in seiner Hand. Sie fuhr zusammen, jeder Blutstropfen wich aus ihrem Gesicht. Da war die Entscheidung – rascher fast, als sie gehofft, gefürchtet. Ihre Füße wankten, unbewußt setzte sie sich und sah mit seltsamem Ausdruck nach Ruhdorf hin, der ihr in diesem Augenblick ganz fremd vorkam.

„Nicht, was Sie denken,“ sagte er und trat dicht neben sie. „Das Heutige meldet im Gegenteil früheren Aufbruch von Charleston, um eine Geschäftsreise anzuschließen. Der Brief ist kurz vor dem Aufbruch geschrieben, mehr als wahrscheinlich also, daß der unsrige Herrn Armstrong dort nicht mehr traf.“

Johanna sah ihn erschrocken an.

„Es handelt sich nur um kurze Verzögerung – selbstverständlich wird alles Einlaufende nachgeschickt.“

Der Ton dieser Worte klang beruhigend, doch verriet Ruhdorfs Miene, daß quälende Aufregung auch in ihm wühle. Erst jetzt blickten beide einander voll an, und beide gewahrten, wie sehr die Woche, die seit ihrer letzten Unterredung in der Villa verlaufen war, an ihnen gezehrt hatte.

Plötzlicher Schreck überfiel Ernst. „Johanna!“ rief er heftig, „bereust Du schon?“

Sie schüttelte den Kopf, ihr bleiches Gesicht färbte sich unter seinem Blick. „Nein,“ sagte sie nach einer Pause, entzog ihm aber fast ungestüm die Hand, die seine Lippen streiften.

In diesem Augenblick wurde es draußen in der Halle laut von Stimmen und Tritten. Johanna fuhr in die Höhe. Die Thür des Empfangzimmers öffnete sich, Armstrongs Gestalt erschien auf der Schwelle. Sein offenes Gesicht leuchtete in schöner Freude. Mit zwei Schritten war er neben seiner Frau, schloß sie in die Arme und sagte aus voller Brust: „Daheim!“

Johanna wußte nicht, wie ihr geschah. Fast leblos hing sie in den Armen des Mannes, der schon im nächsten Augenblick

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_422.jpg&oldid=- (Version vom 19.6.2023)
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