Verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
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daß nun Zeit genug vor ihr läge, daß sie dort alles sagen könnte. Da wurden, wie üblich, die eben eingelaufenen Morgenzeitungen und Privatbriefe hereingebracht. Armstrong stand auf, sie durchzusehen. „O, noch ein Brief von Dir, Hanna,“ sagte er lächelnd. „Und welch ein Aktenstück! Davon hast Du mir ja gar nichts gesagt.“
Johanna sah den Brief in seiner Hand. In der nächsten Sekunde, wie durch übernatürliche Kraft emporgeschnellt, flog sie auf, umschlang ihren Mann mit beiden Armen und rief in erschütterndem Ton: „Ich bin Dein Weib!“
„Was ist Dir?“ sagte er bestürzt.
Ihre Arme glitten nieder. „Gieb mir den Brief,“ sagte sie kaum hörbar. „Wir lesen ihn zusammen – später.“
„Hanna!“
„Habe Geduld mit mir, habe Vertrauen, gieb mir den Brief!“
Er sah sie schweigend an und legte den Brief in ihre Hand. „Ich vertraue Dir,“ sagte er nach einer Weile. „In allem, immer.“
Johanna neigte sich, schwere Tropfen fielen auf seine Hand, die ihre Lippen streiften, ehe er es wehren konnte. Stumm verließ sie das Zimmer.
Ernst Ruhdorfs Augen hatten sich in der verwichenen Nacht ebensowenig geschlossen als die Johannas. Die Botschaft, der er den Sonntag über in steigender Unruhe entgegenharrte, war ausgeblieben. Auch Montag früh brachte die erste Post keine Antwort auf seinen gestrigen Brief. Schon war die Stunde nahe, zu der er sich im Comptoir einzufinden hatte, und nichts – nichts! Der Gedanke, Armstrong ein zweites Mal gegenüberzustehen, abermals das quälende Schweigen bewahren zu müssen, war ihm unerträglich. Sie wußte doch, daß solches Zusammentreffen heute unausweichlich war, daß jetzt alles von ihr abhing. Hatte sie gesprochen? Würde er das dort erfahren? Seine Lage erschien ihm peinvoller noch als die ihrige, die Reihe von Zufällen, die eine Aufklärung Armstrongs vor dessen Heimkehr verhindert hatte, dünkte ihm ausgesuchte Grausamkeit des Geschickes. Er hatte seither jedes Schuldbewußtsein nachdrücklich von sich gewiesen. War er etwa ein frivoler Verführer, der keck und leichtfertig den Hausfrieden brach? Wider sein Wissen und Wollen war diese Leidenschaft groß gewachsen. Armstrong war ein freidenkender Mann, oft hatte er ihn von der Unfreiheit des menschlichen Willens voll Nachdruck sprechen hören. Hatten doch seine eigenen Worte seine Frau im voraus entsündigt, ihr Freiheit zugesagt für den Fall eines zwingenden Konflikts. Durften also sie beide nicht die Augen aufschlagen? Und doch verdunkelten sich die seinigen, so oft er seit der Wiederbegegnung Armstrongs dachte. Im voraus wappnete er sich dem Worte gegenüber, das ihn vielleicht zur Rechenschaft ziehen würde, und fühlte doch einen noch weit stärkeren Druck bei der Vorstellung, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Johanna brachte ihm große Opfer – aber brachte er ihr keine? Wenn sie Haus und Gatten für ihn opferte, so hatte er um sie die holde Jugendliebe fahren lassen, die Zukunftsträume, denen zulieb er aus der Heimat gegangen war. Auch dort wurden heiße Thränen geweint.
Er warf das Haar aus der Stirn zurück und machte sich auf den Weg. Die Sache mußte zu Ende gebracht werden. Als er etwas verspätet im Bureau eintraf, bestellte ihm der Buchhalter im Auftrage des Chefs, dieser sei mit seiner Frau soeben nach der Insel gefahren und würde vor Schluß des Geschäfts schwerlich zurück sein. Ruhdorf setzte sich an sein Pult und arbeitete, was ihm nur mit der größten Anstrengung möglich war. Als er mittags das Comptoir verließ, trat ihm in der Halle Johannas Mädchen entgegen und übergab ihm einen Brief. Obgleich während des letzten Halbjahres durch dasselbe Mädchen manche harmlose Botschaft an ihn gelangt war, sah er ihr forschend in das Gesicht. Sie war völlig unbefangen.
„Wie befindet sich Frau Armstrong?“ fragte er.
„Nicht sehr gut!“ war die bedauernde Antwort. „Die gnädige Frau sieht übel aus, sie hat sich bei der Frau Tante wohl zuviel zugemutet oder gar etwas geholt. Die Fahrt wird ihr aber gut thun, heut’ ist’s ja so warm wie im Sommer.“
Ernst eilte seiner Wohnung zu. Der Brief, der ihm sagen würde, ob schon gesprochen sei, ob es vielleicht in diesem Augenblicke geschah, brannte auf seiner Brust. Kaum in das Zimmer getreten, verschloß er die Thüre, warf sich auf den nächsten Sitz, löste das Siegel und las:
„Verzeihen Sie mir, Ernst, ich sage Ihnen Lebewohl. Vielleicht werden Sie mich darum hassen, geringschätzen sogar. Das muß ich tragen bis zur Stunde, wo Sie einst durch sich selbst erfahren, was mich zwingt. Nicht Feigheit ist’s, nicht ein schwankendes Gemüt, das sich hin und her treiben läßt von jedem letzten Eindruck. Was mich heute bezwingt, liegt weit, weit zurück. Und doch hat ein Tag, ein einziger genügt, mich des schuldvollen Irrtums zu überführen. Wir schöpften den Glauben an die Berechtigung unseres Thuns aus einem Worte Armstrongs – er hat damals noch ein anderes Wort gesprochen, über das wir weghörten, das ich erst seit gestern voll begriffen habe, von dem ich ganz durchdrungen bin: lange Lebensgemeinschaft muß stärker in die Wagschale fallen als Aufwallungen des Gefühls. Ich wollte nicht hören, als dieses Wort mir wieder und wieder einfiel, ich wollte nur hören, was mich von dannen zog, und kam heute zu ihm mit dem Entschluß, ihm das zu sagen. Statt dessen – Gott weiß, wie mir geschah! Vor der einfachen Empfindung, daß tausend Fasern Mann und Weib aneinander binden, wich alles. Ich weiß nun, daß ich nimmer von ihm gehen kann, wenn auch aller Glanz dahin ist aus den Tagen, wenn auch der Riß in mir nie vernarben wird. Vergeben Sie mir alle Bitterkeit, die jetzt in Ihnen gährt, um der Schmerzen willen, von denen nichts mich lossprechen kann. Ich habe kein Glück mehr, das ich Ihnen zu geben vermöchte. Unser Brief ist in meinen Händen.
Leben Sie wohl! Johanna.“
Der große Dampfer, dessen Lauf nach Hamburg ging, hatte das letzte Zeichen gegeben, die Wolken seines Rauches stiegen hoch in die klarblaue Luft. Auf dem Quai des Hafens drängte sich die bunteste Menge in dem Gewühl, das jede Ankunft oder Abfahrt dieser Riesenschiffe zu begleiten pflegt.
„Leben Sie wohl, Herr Ruhdorf, und auf Wiedersehen!“ sagte Armstrong zu dem Scheidenden, der die Landungsbrücke schon betreten hatte. „Lassen Sie von sich hören und nehmen Sie sich Zeit, nicht nur soviel davon erforderlich, sondern soviel Ihnen erwünscht ist. Nichts drängt. Wir wünschen für Sie jeden Erfolg, jedes günstige Gedeihen, meine Frau wie ich, davon seien Sie überzeugt. Meine Frau bedauert gewiß sehr, sich nicht persönlich von Ihnen verabschiedet zu haben, ihre Gesundheit ist aber wirklich augenblicklich recht angegriffen, und ich selbst bestand darauf, daß sie die Verordnung vollständiger Ruhe nicht durchbreche, so lange das Wetter ein Verweilen in der Villa noch ermöglicht.“
Ruhdorfs Auge haftete auf dem ruhigen Gesicht des Sprechenden so eindringend, als müsse er Verborgenes in diesen Zügen enträtseln. Armstrong hatte, wie ihm zuweilen eigen war, während er sprach, in das Weite geschaut. Jetzt begegnete sein Blick dem des jungen Mannes voll und fest.
Ein Leidenszug, der sich um Ernsts Mund geprägt hatte, verschwand nicht unter dem bitteren Lächeln, womit er nun erwiderte: „Gutes Wetter also für Bleibende und Fahrende! Empfehlen Sie mich Ihrer Frau mit den besten Wünschen für ihr Ergehen!“ Dann, indem er die ihm gebotene Hand mit festem Druck ergriff und wieder losließ. „Leben Sie wohl, Herr Armstrong, und – haben Sie Dank!“
Armstrong stand noch mit verschränkten Armen auf dem alten Platz, als das stolze Fahrzeug schon die Wogen brausend teilte. Ein Schiff trägt den Scheidenden gleichsam in das Unabsehbare. Ist es dem Gesichtskreis entschwunden, so weckt das grenzenlose Meer, mit der ewig wogenden, ewig wechselnden Fläche, ein ganz anderes Abschiedsgefühl, als wenn ein Geleitsmann vom Bahnhofe nach Hause kehrt. Ernsten Blickes sah Armstrong den Dampfer kleiner und kleiner werden, bis er nur als goldener Punkt ferne auf den Wellen tanzte. Der gepreßte Ton der letzten Worte Ruhdorfs klang noch im Ohr des Mannes, das war das Dankeswort eines, der die ganze Summe des Erlebten zusammenfaßt, eines Scheidenden, der nicht wiederzukehren gedenkt. Ein Seufzer hob seine Brust. Was er geahnt, war ihm in diesem letzten Augenblick zur Gewißheit geworden.
So stand er minutenlang und sann, dann hob sein Haupt sich frei und sicher. Welche hohe Woge auch über sein Haus hingegangen sein mochte, sie hatte nichts verschlungen, was sein war, nichts, was den unvergeßbaren Naturlaut zu übertönen vermochte: „Ich bin Dein Weib!“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 424. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_424.jpg&oldid=- (Version vom 18.6.2023)