Verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
|
sah er den Mönch über das Felsenufer der Windach aufwärts steigen. „Herr, Herr!“ schrie er, doch das Rauschen der Gewässer verschlang den Ruf. Er klomm über den steilen Hang empor, und als er den Mönch erreichte, griff er nach seiner Kutte. Eberwein wandte das Gesicht. Wie vor dem Anblick eines Gespenstes fuhr der Kohlmann zurück und starrte auf die bleichen Züge, die der Schmerz verwandelt hatte, wie das Erlöschen der Sonne den freundlichen Tag verwandelt in dunklen Schatten. Doch was den Greis in seiner innersten Seele erregte, war nicht der Kummer allein, der aus Eberweins Antlitz sprach. Unter lallenden Worten streckte er die Hände. Eberwein verstand ihn nicht; er faßte den Arm des Kohlmanns und zog ihn vom Ufer hinweg gegen den Waldsaum. „Eigel! Es steht auf Deinem Gesicht zu lesen ... Du bringst mir üble Botschaft!“
Der Kohlmann begann zu sprechen: von dem erschlagenen Knecht, von Ruedlieb und Rötli, von ihrer Flucht mit dem Richtmann, von aller Not im Fischerhaus, vom Auszug der Wazemannssöhne und von Sigenots Bergfahrt – doch er schien nicht zu wissen, was er sprach. Wie gebannt hingen seine Blicke an den Zügen des Mönches. Immer wieder strich er mit der Hand über seine Stirn, als möchte er seine Gedanken zur Ruhe bringen und festhalten, was verworren vor ihm aufstieg und wieder versank in die Dämmerung vergangener Zeiten ...
Eberwein rüttelte den Arm des Kohlmanns. „Solche Botschaft bringst Du,“ rief er mit bebender Stimme, „und stehst vor mir wie auf steinernen Füßen? Auf! Und führe mich! Oder hast Du Furcht ... so weise mir den Weg zum Eismann und bleibe!“
„Furcht?“ Eigel erwachte. „Furcht? Soll geschehen mit mir, was mag ... eh’ ich hin bin, bleibt mir wohl noch Zeit zu einem Streich! Und der soll ausgeben!“ Noch einmal streiften seine Augen das Gesicht des Mönches. Schwer atmend schüttelte er den Kopf und an Eberwein vorüber eilte er quer durch den Wald einem Pfad entgegen.
Als vor Eberwein und Eigel im Wald sich eine Gasse öffnete, griff der Kohlmann erschrocken nach dem Arm des Mönches. „Herr! Sell schaü’ hinauf!“ Und mit dem Stecken deutete er nach der fernen Höhe.
Wie ein weißer Silberguß ging der Fall der Windach über die Felsen nieder, so reich an Wasser wie auch sonst nach schwerem Regen, doch dem Fall zur Seite hatte der See, aus dem sie strömte, sich einen zweiten Ausfluß durch die Felsen gebrochen: in der Steinmauer klaffte eine Spalte, durch welche ein mächtiger Wasserstrahl gleich der blitzenden Klinge eines riesigen Krummschwertes in weitem Bogen mit zischendem Brausen hinausschoß in die Luft, um die Tiefe unter ihm, alle Felsblöcke, Bäume und Moosgehänge, mit wirbelndem Wasser zu überschütten.
„So schau’ nur,“ stammelte Eigel, „der Bidem hat eine Fragel in die Wand gerissen!“
Doch Eberwein hörte nicht. „Was stehst Du? Wir haben Eile!“ Er schwang sich über einen Felsblock, der den Pfad versperrte, und stieg zwischen den Bäumen empor, während Eigel ihm keuchend zu folgen suchte.
Die Sonne stand in Mittagshöhe, als Herr Waze mit seinem Geleit sich dem Ende des Windacher Seethals näherte. Nur kümmerlicher Baumwuchs deckte zwischen dem See und den steilen Wänden das steinige, von zahllosen Schluchten durchrissene Gehäng. Und dennoch bot das öde unfruchtbare Felsthal einen freundlichen Anblick, denn die Sonne übergoß es mit ihrem Glanz; sogar der See und seine sonst so finstere Flut war in ein schimmerndes Bild verwandelt: leuchtend spiegelte das regungslose Wasser den Silberglanz der beschneiten Höhen und das lichte Blau des Himmels.
Lautlose Ruhe herrschte ringsumher auf allen Bergen, hoch im Gewände war das Poltern der fallenden Steine verstummt, und nirgends verriet mehr eine aufstäubende Schneewolke den Sturz einer Lawine. War der Aufruhr, welcher die Natür befallen hatte, zum Schweigen gebracht? Oder sammelten die dunklen Gewalten nur Kraft und Atem zu neuer Empörung?
Wie eine dumpfe Stimme, fern aus dem stundenlangen Thal herauf, klang in die den See umlagernde Stille das seltsame Rauschen der Windach. Herr Waze und seine Söhne, die unter lachenden Reden auf schmalem Pfad am Seeufer dahinritten, achteten der dunklen Mahnung nicht, welche hinter ihnen tönte. Nur die Knechte, die, dem Zug der Rosse folgend, die ungestümen Hunde an den Riemen führten, blieben zuweilen stehen, blickten lauschend nach rückwärts und schüttelten die Köpfe.
Als der See zu Ende ging und der Wald begann, stiegen die Reiter aus dem Sattel. Zwei Knechte übernahmen die Hunde, denen die ledernen Zwingen an die Schnauzen gelegt wurden, um sie stumm zu machen, und während die beiden anderen Knechte zur Bewachung der angekoppelten Pferde am Seeufer zurückblieben, begann Herr Waze mit seinem Geleit den Anstieg über den waldigen Hang.
Als der Wald ein Ende nahm und die verschneiten Halden begannen, hörten die Steigenden leisen Steinfall aus der Höhe. Ueber weißem Grat erschien ein Rudel Gemsen. Schwarz hoben sich die zierlichen Gestalten der Tiere vom Schneegrund ab, und immer neue Köpfe tauchten über den Grat empor. Eine Weile standen die Gemsen regungslos und äugten gegen die höheren Wände des König Eismann. Dann plötzlich begannen sie thalwärts zu flüchten, in dicht gedrängter Schar. Gleich einer schwarzbraunen ins Gleiten geratenen Erdscholle kam das Rudel über den steilen Schneehang niedergefahren. Die Hunde, welche das Wild erspäht hatten, zerrten an den Riemen und winselten unter dem Leder, das ihre Schnauzen schloß. Mitten auf dem Hang hielten die Gemsen inne in der Flucht und äugten auf den Trupp der Leute nieder. Aber nur wenige Augenblicke standen sie, dann wieder begannen sie, ohne die Richtung zu ändern, ihre wilde Flucht, und das Thal auf geradem Wege suchend, stoben sie nah an Wazemann und seinen Leuten vorüber, als wäre in ihnen nicht die Angst vor Menschen und Hunden, sondern andere Furcht. Herr Waze blickte dem verschwindenden Rudel nach und schüttelte den Kopf. „Das versteh’ ich nicht ...“
Henning lachte. „Hinter dem Eismann hausen Leut’ und schüren Feuer in der Oedhütt’ ... und Du verstehst nicht, was die Gemsen laufen macht! Wart’ nur: wie sie Dir die Gemsen scheuchen, so treiben sie Dir auf Deinem Bannberg auch noch das Fahlwild aus!“
„Eher schlag’ ich ihnen die Köpf’ in Scherben!“ fuhr Herr Waze auf, dem sein Fahlwild über alles ging.
„Ich seh’ den Otloh!“ fiel Rimiger ein. „Dort oben hockt er und späht über den Grat hinunter nach der Oedhütt’!“
„Hinauf!“ Ansteigend stieß Herr Waze den Eisenstachel des Grießbeils auf eine Felsplatte, sie brach entzwei, und die Splitter stoben auseinander, als hätte ein Zauber den festen Stein in sprödes Glas verwandelt. Das gewahrten die Knechte, welche hinter dem Spisar die winselnden Hunde führten. Einer von ihnen stieß mit dem Schuh an eine Scholle des zerborstenen Gesteins, und da flogen ihm die Splitter bis an die Brust empor und ins Gesicht. „He, Du,“ rief er seinen Gesellen an, „schau’ nur, was für ein närrischer Stein das ist!“ Er wollte zu Boden greifen, doch die Hunde rissen ihn vorwärts. Unter der Stelle, die der Knecht verlassen hatte, ließ sich ein mattes Knirschen vernehmen. Langsam hoben sich die Brocken des zertrümmerten Steines aus dem Grund hervor, es bildete sich im Boden ein Riß, welcher schleichend in die Breite wuchs, und ein schwarzer Erdwulst legte sich wie zäher Teig über den Schnee heraus ...
Herr Waze und seine Söhne stiegen höher und höher. Sie wunderten sich, daß Otloh, der sie doch lange schon gewahrt haben mußte, so still und regungslos dort oben saß. „Der Bub’ muß heißes Blut haben,“ meinte Sindel, „sonst möcht’ er sich wohl rühren im Schnee und die Arm’ schlagen!“
„Er wird die Hütt’ nicht aus den Augen lassen,“ sagte Rimiger.
Henning lachte. „Jetzt laufen sie uns wohl nimmer davon! Schauet nur: der Rauch steigt aus dem Albenthal über den Grat herauf ... sie kochen ihr Mahl.“
„Die Supp’ soll ihnen versalzen werden!“ keuchte Herr Waze, dem schon der Atem zu Ende ging. Und zu kurzer Rast auf das Grießbeil sich stützend, spähte er nach den dünnen bläulichen Wölklein, welche sich über den weißen Grat emporkräuselten in die klaren sonnigen Lüfte.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 436. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_436.jpg&oldid=- (Version vom 12.7.2023)