Verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
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durch das brechende Gebüsch einher mit klotzigen Rücken. Da kam dem Bruder in seiner blinden Betäubung und schlotternden Angst nichts anderes zu Sinn als jenes Abenteuer des ersten Tages. „Allmächtiger Gott! Hinter mir die wilden Säu’!“ So kreischte er und begann zu springen. Der neue Schreck verlieh ihm neue Kräfte, und mit schlagenden Armen warf er sich durch die Büsche, während hinter ihm ein Brechen und Rauschen sich näherte, als hätten in dem engen Waldthal sich die Wildschweinherden aller Welt gesammelt. Schon ging dem Bruder der Atem aus, als er nah’ vor sich einen die Büsche überragenden Felsblock gewahrte. Schreiend faßte er das niederhängende Gezweig, gab sich einen verzweifelten Schwung und erreichte glücklich eine Stufe des Blockes. Doch als er die Hände streckte, um die Höhe des Felsens zu erklettern, fuhr ihm etwas zwischen die Beine, naß und kalt – und das war kein wildes Ferkel. „Schweiker!“ keuchte der Bruder noch, dann flog er mit einem Purzelbaum über den Block hinweg. Doch er fiel nicht hart; schon hatten unter ihm die schießenden Fluten den Fels umrauscht, eine hohe Welle fing ihn auf, und von der gebauschten Kutte wie von einem Luftsack über Wasser gehalten, segelte Bruder Wampo mit jagender Eile durch das Waldthal hin. Hätte er auch den schnellsten Renner aus des Kaisers Stall zwischen den Knien gehabt, er hätte der „schiechen Gegend“ nicht flinker entrinnen können.
Wohl verging ihm Hören und Sehen vor Todesangst, aber dennoch behielt er so viel Bewußtsein, um zum erstenmal in seinem Leben dem Himmel aus ehrlichem Herzen für das wohlgemessene Bröcklein Fett zu danken, das ihm eine allgütige Vorsicht zwischen Haut und Knochen gelegt. Er konnte nicht sinken! Und als er trotz dieses beruhigenden Trostes in verzweifelter Angst zu zappeln und um sich zu schlagen begann, daß die Luftblasen aus der Kutte wichen und das Wasser ihn umgurgelte bis zum Hals, da fegte ihn eine aus der Flut einhergaukelnde Tanne mit ihrem dichten Gezweig aus den Wellen heraus, als wäre sein rundes Erdengewicht nur ein Flöcklein Wolle. Triefend und zitternd, mit unglaublicher Schnelligkeit klomm er über die schwimmenden Aeste empor, ünd als er sich in den Zweigen eingenistet hatte, erquickte ihn ein schüchterner Atemzug der Hoffnung. Er hielt sich an die Zweige festgeklammert und regte sich nicht; nur manchmal versuchte er mit bleichen Lippen einen Ruf. „Schweiker ... Schweiker ...“ Der Laut ging unter im Gebraus der Wellen. Aber hätte Bruder Wampo in seiner Kehle auch die Stimme eines Riesen getragen – es hätte der Ruf doch nimmer Schweikers Ohr erreicht.
Hoch über dem Thal, das die tobenden Fluten füllten, keuchte Schweiker im halb zerstörten Bergwald über den steilen Hang empor. Sein Atem war wie ein Röcheln, und in dicken Tropfen rann ihm der Schweiß über das Gesicht, auf dessen fahlen Wangen rote Flecken brannten. Taumelnden Schrittes, mit zitternden Händen jeden Halt erfassend, gewann er den Waldsaum. Auf der freien Halde, auf welcher sonst kein Stein gelegen, gewahrte er mächtige Felsblöcke, grauen Schnee und zerstreutes Geröll – und über der Halde sah er wohl des Greinwalders Hag, von Lücken klaffend, doch hinter dem Hag kein Haus und Dach. Mit dumpfem Schrei warf er die Arme in die Luft und begann von neuem zu rennen. Als er wankend das Thor erreichte, sah er den Balkenwust, zu welchem das Haus zerfallen war. Die Bäuerin lag auf den Knien, hielt das Gesicht mit den Händen bedeckt und schluchzte, während der Bauer einen Dachsparren vom Trümmerhaufen hinwegzuzerren versuchte und mit jammernder Stimme immer wieder den Namen seines Kindes schrie. Schweiker stand wie gelähmt; dann plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper, er spuckte in die Hände, stürzte auf die Trümmer des Hauses zu und faßte einen Balken. Mit schier übermenschlicher Kraft hob er das schwere Holz und warf es zur Seite – und so löste er Sparren um Sparren vom Haufen des Gebälks. Als der Bauer und sein Weib den Bruder solche Riesenarbeit leisten sahen, verstummte ihr Jammer, schweigend griffen sie zu, und jeden Balken, den Schweiker hinter sich warf, schleiften sie von der Stelle, um Raum zu schaffen für den nächsten. Schon zeigte sich im Wust der Trümmer eine dunkle Höhlung. Zitternd beugte sich Schweiker vor und keuchte: „Hinzula? Lebst noch?“
„Wohl wohl!“ klang aus dem Gebälk und Schutt hervor das matte Stimmlein der Hirtin.
Unter Schluchzen und Lachen griff Schweiker nach einem Balken und hob ihn achtsam, damit nur ja kein Splitter und kein Bröselein des Schuttes sich bewegen möchte. Dabei sprach er mit Worten rührender Zärtlichkeit in die dunkle Grube hinunter und mahnte die Verschüttete, tapfer auszuhalten und kein Fingerlein zu rühren. „Ich helf’ Dir schon, wohl wohl, thu’ Dich nur nimmer bangen!“
„Mir banget nimmer ... ich seh’ Dich ja schon!“ klang es matt unter den Balken hervor.
Schweiker schluckte, und die Zähren tropften ihm über den Bart. Er hob die Balken, daß ihm an Hals und Schläfen die Adern zu dicken Striemen schwollen, und grub mit den Händen im Schutt, daß ihm alle Nägel brachen. Schon konnte er das bleiche Gesichtchen der Hirtin erkennen, welche mit zuckendem Lächeln zu ihm aufblickte. Aufrecht stehend war sie bis an den Hals zwischen Schutt und Balken eingemauert. Je näher Schweiker der Verschütteten kam, desto emsiger flogen seine Hände ... und endlich hatte er sie herausgeschält, so daß er sie mit den Armen umschlingen konnte und emporheben aus dem zerfallenden Schutt. Er hielt sie an seine Brust gedrückt und taumelte über die Balken nieder auf ebenen Grund. Seine Knie trugen ihn nicht länger. Er sank zu Boden, und auf der Erde sitzend, umklammerte er auf seinem Schoß die Hirtin mit zitternden Armen und bedeckte unter zärtlichem Stammeln ihr Haar, ihre Augen und ihren Mund mit heißen Küssen. Hinzula regte sich kaum, erst nach einer Weile konnte sie die gequetschten Glieder rühren und bewegen ... und da schlug sie die Arme um Schweikers Hals, daß ihm die Stimme erlosch.
Die beiden hielten sich umschlungen, als wollten sie nimmer und nimmer voneinander lassen, als hätte die Erde und der Himmel keine Macht mehr, die mit dem Kitt der höchsten Todesangst und tiefsten Lebensfreude gebundenen Herzen wieder zu lösen. Doch als die wortlose Seligkeit der beiden gar kein Ende nehmen wollte, stieß die Bäuerin den Ellbogen an den Arm ihres Mannes und murrte: „Alles, was recht ist ... aber jetzt könnt’ er uns die Dirn’ doch auch ein lützel hergeben. Ich möcht’ ihr doch auch wieder in die Augen schauen. Geh’, red’ mit ihm!“
„Reden? So?“ Der Greinwalder kratzte sich hinter dem Ohr. „Wenn ich ein Wörtl sag’, das ihm nicht taugt ... der Kerl haut ja gleich zu! Red’ selber mit ihm! Ich kann’s schon noch erwarten, und merken thu’ ich auch, daß ihr nichts geschehen ist: sie busselt ja, als hätt’ sie aller Lebtag’ nichts anderes getrieben! Schau’ nur hin und lus’ ... es schmatzget nur so!“
Der Bauer wandte sich zu den Trümmern seines Hauses; die Augen wurden ihm naß, und er seufzte. Als könnte er den wüsten Anblick nicht länger ertragen, so kehrte er sich ab, und seine Blicke suchten das ferne Thal. „Weib! Sell schau’ hinunter!“ stammelte er entsetzt über die Verwüstung, die seinen Blicken sich bot. „Mir grauset völlig!“
„Und sell schau’ hin, zum Schönsee hinaus!“ stotterte das Weib und deutete in die Ferne. „Zu allem steinigen Elend auch noch Feuersnot!“
Ueber dem Falkenstein loderte eine hohe Feuergarbe. „Wazemanns Haus!“ schrie der Greinwalder, und in seinen Augen funkelte die Freude des Hasses. „Da trag’ ich auch noch ein Scheit zur Glut!“ Er zerrte einen zersplitterten Sparren aus dem Trümmerhaufen seines Hauses und eilte thalwärts, doch kreischend lief ihm die Bäuerin nach und hielt ihn an der Kotze zurück.
Schweiker erwachte aus seiner trunkenen Seligkeit. Wie ein Träumender blickte er rings umher, atmete tief und stammelte: „Wie ist mir denn? Ja sag’ nur, liebe Dirn’, wie ist mir denn?“
„Gut halt! Wie mir!“ lispelte Hinzula, ohne das Köpfchen von Schweikers Brust zu heben.
Er streichelte mit zitternden Händen ihr Haar. „Vor einem Stündl noch ist Todesangst und Not in mir gewesen. Und jetzt ist mir Leib und Seel’ so voller Süßigkeit und Freud’, als könnt’ über mich in aller Lebenszeit nimmer Sorg’ und Herzeleid kommen ... schau’, liebe Dirn’, mir ist ja völlig, als hätt’ ich Himmelsbrot gegessen ...“ Und wieder hing er an den Lippen der Hirtin.
Als der Bauer mit seinem Weib zurückkehrte und den Sparren, den er davongetragen, wieder zum Haufen warf, ließ Schweiker das Mädchen aus seinen Armen. Flink erhob er sich und reckte die Glieder. „Komm, Vater Greinwalder, jetzt müssen wir bauen! Die gute Dirn’ braucht eine Ruhstatt für die Nacht!“ Der Bauer nickte nur; und während die Bäuerin nun endlich ihr gerettetes Kind umhalsen und herzen konnte, begannen die beiden Männer schon die Arbeit.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 467. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_467.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2021)