Verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
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Schulter. „Der Vater Eddas ist ein Jugendbekannter von unserem Vater. Wie geht es dem alten Herrn? Wo kommen Sie her? Sie bleiben jetzt doch einige Zeit in Berlin?“ fragte Lore in ihrer lebhaften Weise.
„Sehr viel Fragen zu gleicher Zeit, Lore! Wir kommen von englischen Hospitälern her, die mein Vater im Auftrag der Regierung angesehen hat. Eine lehrreiche Reise in jeder Beziehung. Wenn Papa nur nicht immer zu viel leisten wollte! Jetzt fühlt er nachträglich den Rückschlog auf die Nerven und muß ausruhen.“
Das junge Mädchen sprach sehr langsam, mit einem eigentümlich rhythmischen Tonfall in der tiefen, aber klaren Altstimme, deren Klang Hermann schon vorher aufgefallen war.
„Du mußt nämlich wissen,“ erklärte Lore, „daß Eddas Vater Arzt ist, mit der Eigentümlichkeit, nur solche Kranke zu behandeln, die nicht von ihren Renten leben und für ihre Wohnung nicht mehr als zweihundert Mark im Jahre bezahlen. Und diese hier, seine Tochter, hat ebenfalls Medizin studiert und unterstützt ihren Vater in jeder Beziehung, was sie nicht abhält –“
„Wollen wir nicht lieber von etwas anderem sprechen, Lore?“ fiel Edda ein. „Ihr Herr Schwager wird sich schwerlich für medizinische Studien interessieren.“ Sie hatte eine Falte zwischen den Augenbrauen, so daß diese fast eine gerade Linie über der scharfgeschnittenen Nase bildeten.
„Ich muß Sie schon einmal gesehen haben, gnädiges Fräulein,“ sagte Hermann, ihr scharf ins Gesicht blickend. „Irgendwo, aber ich zermartere mein Gehirn vergeblich. Es müssen schon mehrere Jahre seitdem vergangen sein.“
„Sehr richtig! In Frankreich, am Lager Ihres Bruders. Ich hatte mich als freiwillige Krankenpflegerin anstellen lassen.“
„Ja, jetzt fällt es auch mir wieder ein! Ihre Augen waren mir in der Erinnerung geblieben. Sie müssen damals sehr jung gewesen sein.“
„Genau zwanzig Jahre! Also jetzt fünfundzwanzig, ohne weiblichen Rechenfehler!“ Es lag beinahe etwas Zurückweisendes in ihren Worten.
„Ich wollte keine Taufscheinbetrachtungen anstellen, gnädiges Fräulein.“
„Wenn ich Sie bitten darf, Herr von Weßnitz, so vermeiden Sie das ‚gnädige Fräulein‘. Ich bin niemals gnädig, wüßte auch nicht, wie ich dazu käme. Ich weiß ja wohl, daß diese Anrede Sitte ist, indes ich höre sie nicht gern –“
„Wie Sie befehlen, mein Fräulein,“ erwiderte Hermann, etwas erstaunt, aber höflich.
„Kommen Sie, Edda!“ rief Lore, um über die entstandene kleine Verstimmung wegzuhelfen. „Ich will Ihnen meinen Jungen zeigen, obgleich er schon schläft. Entschuldige uns einen Augenblick, Hermann! Dort liegen Sachen zum Lesen! Ihr bleibt natürlich bei mir, bis Bruno wieder nach Hause kommt!“
Ohne des Schwagers Antwort abzuwarten, zog sie die Freundin zur Thüre hinaus ins Kinderzimmer.
Edda beugte sich über das schlafende Kind und musterte dessen Züge bei dem schwachen Schein des im Zimmer brennenden Nachtlichts. Ein eigentümlich weicher Ausdruck breitete sich über die sonst so gefaßten ernsten Züge ihres Gesichts, ein Ausdruck von echter Weiblichkeit, den ihr ein oberflächlicher Beobachter gar nicht zugetraut hätte. Als die beiden Damen in den Salon zurückkehrten, lag noch der Abglanz der Weichheit von vorhin auf den Zügen der jungen Dame.
„Fräulein Helm hat eine Schwäche für unsern Jungen,“ berichtete Lore, während sie etwas am Theetisch ordnete. „Unser Bekanntwerden war eigentlich drollig, damals in Helgoland! Edgar bekam eines Abends Fieber, ich eilte selbst hinaus, einen Arzt zu holen, fand den unsrigen nicht und fragte einen Herrn und eine Dame auf der Straße, ob sie mir nicht die Wohnung eines andern Arztes zeigen könnten. ‚Nein das nicht!‘ antwortete der alte Herr, ‚doch, wenn es Eile hat – es stehen zwei Aerzte vor Ihnen.‘ Zuerst glaubte ich, er treibe Scherz mit mir, trotz seines ehrwürdigen Aussehens. ‚Nein, nein, liebe Frau,‘ sagte er dann, ‚hier meine Tochter ist ebenfalls Arzt. Sie können sich ihr getrost anvertrauen.‘ So lernten wir uns kennen und haben reizende Wochen zusammen verlebt.“
„Gefiel es Ihnen in Helgoland?“ fragte Hermann, der sich für das eigenartige Fräulein zu interessieren begann.
„Wir waren im September dort, also nach der Saison. Mein Vater geht mit Vorliebe in ein Seebad, um den ganzen Tag auf oder an dem Meere zuzubringen. Er stammt aus einem Ort an der Nordseeküste und schwärmt für die See.“
„Du mußt den Doktor Helm kennenlernen, Hermann,“ unterbrach Lore die Freundin, „ein Original, ein Mensch, in dessen Gesellschaft man stets Neues aufnimmt. Doch, Du wirst ja selbst sehen, ich will Dir die Freude nicht im voraus wegnehmen.“
Sie beugte lauschend den Kopf vor; auf dem Gang ertönten Schritte. „Das wird Bruno sein! Nein, doch nicht – eine andere Stimme! Himmel! Prinz Sissi, mein Pariser Schatten! Das fehlte mir gerade noch.“
„Ah, madame la Baronne!“
Der Ankömmling, dem das Mädchen die Thüre des Salons geöffnet hatte, schien für einen Augenblick verwirrt zu sein durch die fremden Gesichter.
„Sie hier? Also doch meinen Wunsch nicht erfüllt,“ sagte Lore, ihm die Hand reichend. „Prinz, Sie sind unverbesserlich und werden Ihre Thorheiten nie lassen. Weshalb jetzt, wo der Karneval beginnt, Paris den Rücken wenden? Trotzdem aber heiße ich Sie willkommen. Fräulein Helm – mein Schwager!“
Prinz Sissi antwortete gar nicht, sondern lächelte still vor sich hin.
„Hab’ ich mich gefreut, Baronin! In Paris giebt es keine warmen Oefen. Und die Saison? Mein Gott, was liegt mir daran! Immer dasselbe! Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Herr von Weßnitz! Habe viel von Ihnen gehört.“ Er musterte Hermann unbefangen mit einer Harmlosigkeit, daß man es ihm nicht übelnehmen konnte.
Ein merkwürdiger Mensch! Der Russe war schlank bis zur Dürftigkeit, jede Bewegung jedoch, als würde sie von verborgenen Stahlfedern getrieben, war leicht, elastisch, das Gesicht slavisch, mit großen grauen Augen, straffen, tief in die Stirn gewachsenen Haaren, harten, eckig hervortretenden Backenknochen. Aber auf diesen an sich wenig anziehenden Zügen spielte ein eigentümliches inneres Leben. Man konnte dem Prinzen ebensogut zwanzig wie dreißig Jahre geben. Die Stimme schwankte in der Betonung; sie war oft weich, oft scharf und gab jedem Wort seinen eigenen Nachdruck. Sein Anzug zeigte ganz die allerneueste Pariser Mode, als hätte man ihn aus dem Schaufenster eines Kleiderkünstlers entnommen, und doch sah der Mann nicht lächerlich aus.
Hermann blickte ihn scharf an. Keine Frage, ein interessanter Mensch! In diesen Zügen schlummerte etwas von ursprünglicher Naturkraft.
Auf Edda heftete der Prinz im Anfang einigemal seine großen Augen, gab dann aber den Versuch auf, für seinen Geschmack in ihrem Gesicht etwas Sympathisches zu finden. Dabei plauderte er französisch und deutsch drauf los, als sei er gewohnt, jeden Abend in diesem Kreise zu sitzen. In Paris sei anhaltendes Regenwetter, selbstverständlich, seit Frau von Weßnitz den Rücken gewendet habe. Das klang weder wie eine gewollte, noch wie eine unabsichtliche Schmeichelei aus seinem Munde, sondern wie die Feststellung einer unleugbaren Thatsache.
„Mein Gott, Baronin, ich bin auf den Boulevards umhergelaufen wie ein herrenloser Hund. Ich konnte nicht arbeiten, nicht einmal Gedichte machen, was doch sonst den Unzufriedenen am leichtesten wird. Ich beneidete jeden Burschen auf der Straße, der italienische Wachsstreichhölzer ausrief. Dann ließ ich mich von Sachée und dem Herzog Osco ins Schlepptau nehmen, nebenbei gesagt, den beiden größten Müßiggängern in Paris. Wir bummelten, aßen, spielten, tranken –“
„Oho!“ Lore drohte mit dem Finger. „Prinz, welch ein Benehmen! Vergaßen Sie so schnell meine gute Erziehung?“
„Warum sind Sie fortgegangen! Wie sollte ich es aushalten ohne Ihren Anblick, ohne die gemütlichen Abende an Ihrem Theetisch! Es dauerte nicht lange, da bekam ich Kopfschmerzen, beklagte mich beim Arzt, und es wurde mir Luftwechsel empfohlen.“
„Sie hätten in Ihre Steppe gehen und mit den Wölfen ein Konzert geben sollen,“ neckte Lore.
Er schwieg eine Weile und sah völlig niedergeschlagen aus.
„Ja, ja, Baronin, in die alte liebe Steppe. Ach, diese Steppe! Nur Himmel und Schnee und hungerige Wölfe, und die Kosaken jagen vorüber auf ihren Pferden. Wie sie jauchzen und die Peitschen schwingen, wie der Schnee stäubt und der Wind durch die Mähnen der Pferde saust! O, das ist herrlich!“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_486.jpg&oldid=- (Version vom 3.10.2022)