Verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
|
Die Handschuh-Stuhlwirkerei.
Das waldreiche sächsische Erzgebirge bietet der landschaftlichen Reize unendlich viele. Wer nur einmal den abwechslungsreichen Thälern der Schwarzen Pockau, der Flöha, der Zschopau mit den prächtigen Punkten am Katzenstein, bei Schloß Augustusburg und am Harrasfelsen einen Besuch abgestattet, wer eine Wanderung vom reizend gelegenen Wolkenstein nach Wilischthal, von Olbernhau nach Rübenau und am Schwarzwasser von Schwarzenberg nach Johanngeorgenstadt unternommen, oder wer die herrliche Fernsicht von dem Fichtelberg, Bärenstein, Kuhberg, Spiegelwald, den Greifensteinen aus genossen hat, der vergißt die gewonnenen Eindrücke gewiß sobald nicht wieder.
Einfach und bescheiden sind die Bewohner dieses Landes. Der Boden ernährt sie nicht gut. Der Landwirt aus der fruchtbaren Niederung wird sie sicher bemitleiden beim Anblick der dürftigen Ackererzeugnisse. Oftmals zieht der Winter ein, wenn das Wenige, was auf der Flur erwuchs, noch nicht abgeerntet ist, weil die nötige Reife fehlt. Der Erzgebirgler aber ist genügsam und thätig; was Mutter Erde ihm versagt, sucht er durch seiner Hände Arbeit zu erringen
So kommt es, daß das Erzgebirge äußerst gewerbsfleißig ist. Die fallreichen Gebirgswasser bringen die treibende Kraft zahlreichen Spinnereien, Schneidemühlen, Holzstoff- und Papierfabriken. Wem diese keine Beschäftigung bieten, der findet sie in der durchs ganze Erzgebirge verbreiteten Hausindustrie. Hoch oben in Seiffen, Olbernhau bis hinunter nach Grünhainichen arbeiten Hunderte von Familien bis spät in die Nacht in der Holzspielwarenerzeugung. Weiter nach Westen hin, in Marienberg, Annaberg, Geyer, Ehrenfriedersdorf, Eibenstock giebt die Gorlnäherei und Posamentenherstellung ganzen Ortschaften Brot; während von Thum, Lößnitz, Stollberg ab bis nach dem schornsteinreichen Chemnitz und dem Fuße des Gebirges die mächtige Strumpfwarenindustrie seit der Einführung des Wirkstuhles in langgedehnten Dörfern ihr Heim aufgeschlagen hat. Die tausend und abertausend Dutzende von Strümpfen, welche in ihren geschmackvollen Farbenzusammenstellungen ebenso die leichtlebige Pariserin wie die stolze Nordamerikanerin und die glutäugige Indierin entzücken – sie stammen – fast alle aus diesem kleinen Teile des großen Deutschen Reiches.
Wenn der Reisende im Dampfwagen auf der Linie München–Dresden die kurze Strecke Hohenstein–Chemnitz durcheilt, betrachtet er wohl gern die schmucken Ortschaften, welche sich rechts und links der Bahn einander anreihen, als ob sie ein zusammenhängendes Ganzes bildeten. Im übrigen wird er an den weißgetünchten, zuweist aus Erd- und Obergeschoß bestehenden, ziegel- oder schiefergedeckten Häusern mit ihren Vor- und Seitengärtchen wenig Auffälliges finden. Hier ist der Hauptsitz der Erzeugung des ältesten sächsischen Handschuhes, der gewirkten Stuhl- oder Einnaht-Finger-Handschuhe. Die Herstellungsweise dieser Handschuhe, die in ihren besseren Mustern dem Kunstgewerbe zuzuzählen sind, ist sehr interessant, aber auch sehr mühsam, und die schöne Trägerin, die sich der kunstvollen Arbeit ihres Handschuhes freut, würde gewiß nicht glauben, daß dieser in solch bescheidener Umgebung entsteht und daß soviel Arbeit, soviel peinliche Sorgfalt zu dessen Fertigstellung erforderlich ist.
Zu unserer Reise benutzen wir von Chemnitz aus den Bahnzug, indem wir nach dem in 15 Minuten erreichbaren Siegmar fahren, dessen gefällige Häuser in dem Besucher einen freundlichen Eindruck hervorrufen. Von hier aus wenden wir uns westwärts der Landstraße entlang und nach wenigen Schritten befinden wir uns mitten in der Wirkerei. Fast aus jedem Hause und aus jeder Stube tönt uns das eigentümliche Schnurren des Wirkstuhles entgegen, ab und zu sitzen vor den Häusern Kinder, mit kleinen Arbeiten an Handschuhen beschäftigt.
Treten wir ein in ein solches Haus, aus dem uns das lebhafte „Raazen“ der Maschine schon von ferne regsame Thätigkeit verkündet. Wir befinden uns in einer niedrigen, nicht zu großen Stube mit einem dem Garten und zwei der Straße zugewandten kleinen Fenstern. Sie dient augenscheinlich gleichzeitig als Küche, Wohn-, Eß- und Arbeitszimmer, da in der Regel der Wirker außer einem kleinen Alkoven nebenan oder einer Kammer im Dachgeschoß nur über diesen einen Raum verfügt.
Vor dem Ofen, der zum Kochen wie zum Heizen dienen muß, hat eine niedrige Bank ihren Platz, dahinter an der Wand hängt ein Brett mit dem wenigen für die Familie erforderlichen Geschirr. Ein Haussegen über der Thür und einige billige Bilder schmücken die einfach gestrichenen Wände. Ein viereckiger Tisch, ein paar Holzstühle, eine Kommode mit darüber befestigtem Spiegel und eine Schwarzwälder Wanduhr vervollständigen die dürftige Ausstattung. Blankgescheuerte Dielen, weiße Vorhänge und einige kleine Blumenstöcke an den Fenstern geben dem engen Raume einen freundlichen Anstrich. Ein Vogelbauer fehlt auch hier nicht, wie in der That fast in jeder Wirkerstube ein Hänfling, Zeisig oder Rotkehlchen zu finden ist.
Der beste Platz dicht am Fenster ist dem Wirkstuhl angewiesen. Dieser besteht in der Hauptsache aus Holz, einzelne Teile aus Eisen. Seine Bauart ist auch heute noch von der vor hundert Jahren
gebräuchlichen kaum merklich verschieden. Der Stuhl gehört fast immer dem Fabrikanten – oft auch „Faktor“ genannt – der ihn dem Arbeiter zur Miete giebt. Dieser verarbeitet darauf das vom
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 572. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_572.jpg&oldid=- (Version vom 18.10.2022)