Verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
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Es ist ein gut Stück Wegs bis dahin, nicht selten haben die Leute stundenweit zu gehen. In der Lieferstube warten schon mehrere Arbeiter, denen der Fabrikant selbst oder seine Gehilfen das Material zu neuer Arbeit bereit machen. Es ist das immer ein schwieriges Geschäft, denn die Kundschaft ist anspruchsvoll und will unter hunderterlei Farben die Wahl haben. Ist das Aussuchen der Farben beendet, dann geht es an das Abteilen des Flors und der Seide; denn vom Material soll der Arbeiter nicht zu viel und auch nicht zu wenig erhalten. Einem anderen fehlt noch Flor und Seide zu einer Fingerkoppe, bei einem dritten ist der Flor nicht rein gefärbt gewesen. Dazwischen hinein kehrt ein Bote von einem Arbeiter zurück, der dort fertige Ware abholen sollte. Er kommt mit leeren Händen: die Handschuhe waren zwar bis heute versprochen, indessen noch gar nicht angefangen, denn schwere Krankheit ist bei jenem eingezogen. Kinder holen sich Handschuhe zum Fädeln, wieder andere bringen solche von der Näherin und so geht das weiter. Kommt die Ware fertig von dem einen Arbeiter, so muß sie vielfach noch 5 bis 6 mal und noch öfter ausgegeben werden, bevor die letzte Hand angelegt werden kann.
In der Appretur werden die Handschuhe zur Erzielung eines gefälligen Aussehens über heiße Formen gebracht, nach Fehlern untersucht, gestempelt, geheftet und schließlich gepackt, womit sie endlich zum Verschicken bereit sind.
Wie aus der oben geschilderten Herstellungsweise ersichtlich ist, erhält der Finger nur eine Seitennaht. Die große Dehnbarkeit des Handschuhes ist der gewirkten Ware eigentümlich und auch nur durch das Wirken zu erzielen.
Auf die Handschuh-Stuhlwirkerei sind etwa 1500 Männer, darunter vielleicht 1200 Familienväter, insgesamt ungefähr 6000 Menschen im ganzen Bezirke angewiesen. Ein Teil der Arbeiter sucht sich während der Sommermonate eine lohnendere Beschäftigung als Handlanger, Maurer, Ziegler, Bergarbeiter etc. und kehrt erst im Winter an den Wirkstuhl zurück. Fast zwei Millionen Paar Handschuhe werden jetzt im Jahre hergestellt, jedoch ließe sich diese Zahl leicht auf das Doppelte erhöhen.
Erfüllt von unseren Einblicken in das Leben und Treiben einer in hartem Dasein doch zufriedenen Bevölkerung, schicken wir uns zur Rückkehr an. Ohne daß wir es besonders bemerkt haben, sind wir ziemlich weit im Thale hinaufgekommen; wir verlassen dasselbe aber nicht, ohne es zuvor nochmals von der nahen Anhöhe aus überschaut zu haben. Unsere Schritte nach dem den ganzen Bergrücken bedeckenden Hochwald hinüberlenkend, erklimmen wir einen steilen Fußpfad. Bald befinden wir uns auf einem freien Platze mit abgeplatteten Steinkolossen, auf dem sogenannten „Totensteine“, wohl einer alten Richt- oder Opferstätte, rings umgeben von mächtigen Tannen und Fichten. Hier an dieser sagenumwobenen Stelle hat der rührige Erzgebirgszweigverein Rabenstein in Gemeinschaft mit dem Limbacher Bruderverein einen eisernen Aussichtsturm errichtet. Wir besteigen diesen „Maria Josepha-Turm“ und mit einem Male sehen wir die ganze Handschuhwirkergegend vor uns liegen: Wüstenbrand, Oberlungwitz, Grüna, Mittelbach, Reichenbrand, Siegmar, Rabenstein. Aus dem sanft ansteigenden Gebirge blicken noch viele freundliche Ortschaften hervor; im Osten breitet sich mit seinen Türmen und unzähligen Dampfessen das emsig schaffende Chemnitz aus und nach Südwesten zeigen sich im Oelsnitz-Lugauer Reviere verschiedenw Kohlenwerke. Den Hintergrund bildet im Süden die Kette des Gebirges. Darüber hinweg aber sendet der Keilberg, der Riese des Erzgebirges, uns seine Grüße aus dem beachbarten Kaiserstaate.
Alle Rechte vorbehalten.
„Up ewig ungedeelt!!“
(3. Fortsetzung.)
Es war sehr friedlich geworden in dem epheuumrankten Hause, seit die beiden ärgsten Feinde, das Katteeker und der Lieutenant, auf unbestimmte Zeit Waffenstillstand geschlossen hatten. Ein unbefangener Zuschauer hätte die jungen Leute wohl gar für die allerbesten Freunde gehalten, hätte er gesehen, wie angelegentlich und einträchtig sie sich der gemeinsamen Erziehung des Buchfinken und des Kanarienvogels widmeten oder den vergnüglichen Sport der Fliegenjagd für die Frösche eins, zwei und drei betrieben. Selbst die kluge Tante, die ihr Katteeker doch wahrlich besser hätte kennen sollen, verfiel zuletzt in den Irrtum, diesen Waffenstillstand für einen endgültigen und von beiden Parteien unterschriebenen Friedensvertrag zu halten. Sie hatte ein paarmal aus ihres Vetters treuherzigen blauen Augen einen heißen Blick aufgefangen, der dem Katteeker galt und sie lebhaft an jene längstvergessene Zeit erinnerte, wo Vetter Gerhard ihr selber huldigend zu Füßen gelegen. Mit stillem Lächeln mußte sie dabei der Vergänglichkeit alles Irdischen gedenken und nach Frauenart knüpfte sie an diesen Sprung von der Tantenverehrung zur Nichtenanbetung allerlei fröhliche Hoffnungen für die Zukunft. Ja sie war in diesen Hoffnungen so sicher, daß sie eines Morgens in ernstlichem Ueberlegen vor ihrem Kleiderschrank stand und die Frage erwog, ob das blau und schwarz karrierte Seidenkleid wohl noch gut genug sei, oder ob Johannes ihr ein neues spenieren würde, wenn – – –
Inzwischen saß an eben diesem bitterkalten Wintermorgen Herr Johannes Genthin in einem überfüllten schlecht geheizten Coupé des Altona-Kieler Zuges und überließ sich seinen Gedanken, die nicht halb so rosig und hoffnungsvoll waren wie jene seiner lieben Frau.
Die Reise der schleswig-holsteinischen Abgesandten, diese Reise, auf die man daheim alle Hoffnungen gebaut, von deren Erfolg das mißhandelte und gequälte Volk die lange ersehnte Befreiung erwartete, sie war so gut wie vergebens gewesen. Wohin sie kamen, waren sie von den entflammten deutschen Brüdern mit Jubel und Begeisterung empfangen, mit offenen Armen aufgenommen worden. „Los von Dänemark! Up ewig ungedeelt!“ war die Parole, die damals zündend von Land zu Lande flog. Kein noch so weltfernes Städtchen gab es, wohin das Wort nicht wie auf Flügeln des Windes drang. Und so regte und rührte es sich überall, wohin die Abgesandten der Herzogtümer kamen. Man wetteiferte, diesen wackeren Freiheitskämpfern seine Sympathien zu beweisen. Ehrenpforten, weißgekleidete Jungfrauen, Ansprachen und festliche Gastmähler waren an der Tagesordnung – aber der Bund rührte sich nicht! Volksversammlungen und Kammern forderten die Unterstützung der Herzogtümer, aber der Bund rührte sich nicht! Immer noch standen die Bundestruppen unschlüssig und unthätig in Holstein, noch hatte kein gewappneter Fuß die Eider überschritten.
So war denn wieder einmal für die Herzogtümer jegliches Hoffen vergebens, alle Mühe, die sich die Deputation gegeben hatte, umsonst gewesen.
Umsonst, alles umsonst!
Das erwog Johannes Genthin, während er, in seine Ecke gedrückt, sich mühte, die widerspenstige Cigarre in Brand zu setzen, während die laute derbe Unterhaltung seiner Mitreisenden ihn umschwirrte. Er war allein und fremd unter all diesen Menschen. In Hamburg, wo die Wege der zurückkehrenden Deputation ohnehin auseinandergingen, hatte er erst noch eine geschäftliche Angelegenheit erledigen müssen und war auf diese Weise von seiner bisherigen Reisegesellschaft getrennt worden.
Schwer lastete auf seiner Seele das Scheitern aller Hoffnungen seiner unglücklichen Landsleute, aber in dieser Stunde quälte ihn noch ein anderes: die Ungewißheit über das Ergehen der Seinigen, von denen er seit Beginn der Reise ohne Nachricht geblieben war. Daß Hedwigs Briefe ihn einfach verfehlt hatten und von Station zu Station nun getreulich hinter ihm her wanderten, konnte er freilich nicht wissen, und so geriet seine Stimmung allgemach in jene Verfassung, wo das vom Denken und Grübeln zermarterte Hirn dumpfer Verzweiflung anheimfällt.
Plötzlich schlug ein Klang an sein Ohr, der ihn aus seinem Brüten aufschreckte und eine neue Gedankenfolge wachrief. Irgend jemand hatte den Namen seines Heimatstädtchens ausgesprochen, und helle freundliche Bilder von Wiedersehen und Kinderjubel, von der Freude seines jungen Weibes begannen vor ihm aufzusteigen, während der Zug rasselnd und stampfend über die schneebedeckte Ebene dahinjagte.
„P . . .?“ fragte eine grobe Stimme in breitester Mundart. „Da is ja ’n komisches Stückschen passiert, haben Sie da nix von gehört?“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 574. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_574.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2023)