Verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
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„Ne! Was denn?“ rief und fragte es erwartungsvoll.
Der erste Sprecher lehnte sich mit Behagen zurück. „Ja, meine Herr’n, da passieren männigmal snaksche Dinge auf dieser Welt.“ Ein listiges Schmunzeln überflog das breite rote Gesicht beim Anblick all der gespannt lauschenden Mienen. „Sie wissen doch woll alle von die große Deputatschon nah’n Bundestag? Na, welche von die Bürgers in P. sünd da ja natürlich auch mit bei gewesen, un weildes, daß sie weg sünd, kommen die Preußens. Na, Sie wissen woll, meine Herr’n, wie das unnerwegens zugegangen is: Fenster zu, Thüren zu, un keine menschlich lebennige Seele auf der Straße. So is das denn in P. nu ja auch gewesen, un was die Preußens sünd, die ziehen da denn durch un machen ’n schiefes Maul, von wegen daß sie sich die Sache denn doch ’n bischen pläsierlicher gedacht hatten. Na, ’s is gut! So müssen sie nu also durch ’n ganzen Ohrt in einen Dodesschweigen, bloß wie sie bei ’s letzte Haus vorbeikommen, hängt da ’ne preuß’sche Fahne raus, un lüttje Gören stehen un bewerfen ihnen mit Blumenbuketters. Na, da wird denn ja nu ’n großen Juchhei, un alle fangen an un singen, all was sie können, ,Heil dir in’ Siegerkranz‘ – un was der öbberste General is, der steigt gleich vons Pferd un geht herein un bekukt sich die Madam mal genau, die da wohnen thut un das Ganze anord’niert hat ...“
„Da hab’ ich auch von gehört!“ ries jemand anders dazwischen. „Soll ’ne lütt’ nüdliche Frau gewesen sein!“
„Wie heißt sie denn? Wer is das denn? Wo, Deubel, kann sich ’ne Schleswig-Holsteinerin zu so ’n Stück hergeben?“ fragte und schalt es in lautem Durcheinander.
„Ne, ne! Sie is ja gar keine Hiesige! Is selber so ’ne Eingewanderte aus Preußen oder sonst woher! Un wat dat Dullste is, miene Herrn“ – der Sprecher geriet in seinem Eifer jetzt völlig ins Plattdeutsche – „wat ehr Mann is, de sall sülwst mit bi de Deputatschon wesen. Den Namen hev ik ok wul hürt, hev em man wedder vergeten. Dat weer so wat vun Tarpentien[1] oder so ähnlich. So wat weer dat. – Na, hebb Se denn ok all hürt, wie de Ahrnsböker de Hannoveraner empfangen hebb’n?“
Damit lenkte er die Unterhaltung auf ein anderes Thema über – und die lähmende Spannung, die Johannes Genthin wie ein Bann umfangen hatte, löste sich. Er saß noch immer, ohne sich zu rühren, in seine Ecke gedrückt und starrte auf den blendenden Schneeglanz draußen auf der Heide, und in seinem Hirn klopfte und hämmerte es wie ein Mühlenwerk.
War das, was er gehört, denn wirklich wahr? War’s möglich, daß Hedwig eine so thörichte Demonstration in Scene gesetzt hatte, sie, die so ängstlich selbst den Schein eines außergewöhnlichen Thuns vermied? Er konnte es seiner ruhigen, so vornehm denkenden Frau nicht zutrauen. Und dennoch! Die Schilderung stimmte zu genau; sein Haus, das friedliche, epheuumsponnene, stand ja wirklich unter den letzten an der Landstraße, und Hedwig war die einzige Preußin, die einzige Fremde im ganzen Ort. Und niemand wußte besser als er selbst, welch begeisterte Vaterlandsliebe in dieser Frauenseele lebte, wie tief und fest eingewurzelt das Heimatgefühl in ihr war, wie unvergessen das Land, wo sie ihre frohe Jugendzeit verbracht hatte. Ach nein, für ihn konnte es keinem Zweifel unterliegen, daß niemand anders mit dieser „Preußin“ gemeint war als sein eigenes Weib! Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, er ballte die Faust, in seine Augen kam ein finsterer drohender Blick. O, hier sitzen müssen unter diesen schwatzenden lärmenden Menschen, die jeden Augenblick wieder beginnen konnten, seines Weibes Ehre in den Staub zu ziehen – unthätig, wehrlos, denn was konnte es nützen, sich mit den Leuten in ein widerwärtiges Streiten einzulassen? Hier sitzen und Station um Station gleichmäßig abrufen, abläuten hören, hier sitzen, regungslos, in dieser Aufregung, mit diesem Zorn und dieser heimlich nagenden Angst im Herzen – o das war entsetzlich, das waren die Qualen eines Gefolterten!
Aber die Stunden vergehen, die guten wie die schlimmen, und auch diese Fahrt, die schrecklichste, die Genthin je erlebt, nahm ihr Ende.
Bald lag Kiel vor ihm, die alte Ostseestadt, an der eisbedeckten Föhrde, und über ihr blaute der klare Winterhimmel. Die finsteren Augen des Mannes blickten heller, als er die schleswig-holsteinischen Fahnen schaute, die lange verbannten, die von allen Häusern niedergrüßten, die sich stolz und weithin leuchtend im frischen Seewind entfalteten. In den Straßen wimmelte es von Soldaten aller Sprachen, freudige Erwartung auf allen Gesichtern, neues Hoffen in den Augen von alt und jung. Es war, als ob die Märztage von 1848 wiedergekehrt wären. „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!“ Gott sei gelobt! Hier wenigstens rüttelte und schüttelte man an dem verhaßten Joch, hier wenigstens läuteten die Glocken Tage des Kampfes ein!
Mit vieler Mühe fand Genthin einen Wagen – und nun heim!
In der tiefen Stille, die ihn draußen in Gottes freier Natur umgab, in dem Frieden des sonnigen Wintertages ward es auch in seiner Seele ruhiger. Er lehnte sich zurück und atmete in vollen Zügen die Heimatluft. Die wechselnden wirren Eindrücke klärten, milderten sich. Das frische Kriegsleben in der Hafenstadt hatte die traurigen Reisebilder verdrängt. Ihm war, als wenn er wider alle Hoffnung doch noch hoffen dürfte. Hatte doch der alte Vater Wrangel in seiner volkstümlichen Weise altes Unglück und neue Zukunft mit einem seiner treffenden Schlagworte zusammengefaßt und allen Leuten tröstend zugerufen: „Kinner, dit ward nu better!“ Bei Gott, ja, es mußte besser werden! Die Aufregung in deutschen Landen wuchs ja von Tag zu Tag, und Volkesstimme – Gottesstimme! Endlich würde diese allgewaltige Stimme mit Donnerschall die Säumigen aus ihrem Schlaf wachrufen, wie ein entfesselter Riese würde das deutsche Volk hervorbrechen und den Bruderstamm aus unerträglicher Knechtschaft befreien!
So zogen und jagten die Gedanken durch des einsamen Mannes Seele und in den großen Sorgen und Hoffnungen des Vaterlandes gingen seine eigenen kleinen Sorgen und Kümmernisse unter.
Auf der hartgefrorenen Landstraße rollte der Wagen dahin, der Heimat zu. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, nur in der Ferne ein einsames altes Botenweib, das sich schon mehrmals sehnsüchtig umgeschaut hatte. Genthin kannte die Alte, die auch für sein Haus schon manchen Weg gegangen war. In angeborener Gutmütigkeit ließ er den Kutscher halten und rief:
„Na, Mudder Kählertsch, smieten[2] Se ehrn Packen man achter[3] up! So, un nu springen Se man hier herup!“ Damit machte er neben sich Platz, denn vorn beim Kutscher stand sein Reisekoffer. Die alte Frau folgte der freundlichen Aufforderung, ohne viel Worte darüber zu verlieren, und drückte sich bescheiden in die andere Ecke des breiten Sitzes.
„Na, Mudder Kählertsch, wo geiht dat denn in P . . .?“ fragte Genthin und legte seine warme Reisedeeke über die dünnen Röcke des armen Weibes.
„O, ’t geiht jo,“ versetzte sie einsilbig.
„Hebb’n Se mien Fru un de Kinner seh’n?“
„Seh’n hev ik ehr grad nich. O, de ward wul nix fehlen,“ kam die zögernde Antwort. Es war, als wenn sich eine Hand erst vorsichtig und heimlich tastend ausstreckt, ehe sie recht zuzugreifen wagt.
Die zugeknöpfte Art der sonst so redseligen Alten befremdete Genthim und er fragte sich, ob auch sie, die aus Frau Hedwigs Händen schon so manche Wohlthat empfangen hatte, von dem allgemeinen Haß gegen „die Preußin“ angesteckt sei. So saßen die beiden Menschen eine geraume Zeit stumm nebeneinander, jedes in seine eigenen Gedanken versunken; nur zuweilen streiften die Blicke der Frau mit heimlichem Forschen das ernste luftgebräunte Antlitz ihres Begleiters. Endlich schien sie zu einem Entschluß gekommen zu sein, legte ihre arbeitsharte Hand auf Genthins Arm, räusperte sich ein paarmal und that zuletzt die harmlose Fragen „Is de Herr lang’ weg west?“
„Virteihn Dag, Mudder,“ antwortete er, tief in Gedanken, er hatte fast vergessen, daß jemand neben ihm saß.
„Hm, hm! Dat is je nich, dat ik wat gegen Madam’ Genthin segg’n will – man, dat’s doch beter, dat de Herr wedder an’t Hus kümt.“
„Woso dat?“ fragte Genthin, aufmerksam werdend, und blickte sie scharf an.
Die Alte schüttelte bedächtig den Kopf. „O, doch man so! De Lüd snaken veel, Herr, un allens ward je wul nicht wohr wesen,“ erwiderte sie diplomatisch.
Genthin fing an, ungeduldig zu werden. Aber er wußte, daß er durch Heftigkeit nichts erreichen würde, wollte sich auch die Stimmung nicht verderben lassen, deshalb machte er gute Miene zum bösen Spiel.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_575.jpg&oldid=- (Version vom 18.10.2022)