Verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
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„Das geht nicht! Weßnitz hat an den früheren Hypotheken genug zu tragen.“
„Einerlei, es muß sein!“
Der alte Bankier sprang auf und rannte hastig im Zimmer auf und ab. „Ist eine Möglichkeit vorhanden, das Kapital innerhalb sechs Monaten zurückzugeben?“
Hermann lachte auf, schrill, trocken.
„Herr von Weßnitz, ich habe Ihrem Vater oft geholfen – er war ein Ehrenmann, und Sie sind sein Sohn! Aber ich bin ein Greis und habe Kinder. Das Gut trägt diese neue Last nicht mehr.“
„Schaffen Sie das Geld, Weber!“
Der alte Mann schaute eine Weile stumm in das verzweifelte blutleere Gesicht seines Besuchers. Es graute ihm fast vor diesem Ausdruck qualvollen Schmerzes. „Auf gute Zinsen, Herrn von Weßnitz?“
„Einerlei! Es geht in einem Bettel fort.“
Jener seufzte. „So will ich versuchen, das Geld zu schaffen.“ Hastig verließ er das Zimmer.
Als er nach einer Stunde zurückkehrte, saß Hermann noch auf demselben Fleck. „Haben Sie Vertrauen zu mir, Herr von Weßnitz! Es ist wieder für den Herrn Bruder? Ein Kavalier, aber sorglos, sehr sorglos! Das ganze schöne Geld also fort?“
„Ja.“
„Dann ist Weßnitz nicht zu halten!“
„Ich weiß es. Wenn kein Gott hilft!“
Der alte Geschäftsmann lachelte. „Ich will Ihnen etwas sagen, Herr von Weßnitz, nichts für ungut – es giebt noch ein Mittel. Machen Sie eine reiche Partie! Es wäre zu arrangieren.“
„Lieber betteln! Lieber Weßnitz verkaufen!“
„Nun, dann nicht! Ich habe das Geld flüssig gemacht; die gerichtliche Sache mit der Hypothek werde ich ordnen; aber eins versprechen Sie mir, Herr Baron, kommen Sie in acht Tagen noch einmal hierher, ehe Sie irgend welche Schritte zum Verkauf des Gutes thun.“
Hermann stand wortlos auf.
„Versprechen Sie es mir, Herr von Weßnitz!“ Des alten Mannes Hände zitterten, als er sie ihm entgegenstreckte. „Ich weiß, wie Sie gearbeitet haben seit einem Jahr; wie ein Lastpferd.“
„Hier!“ Hermann legte seine feuchtkalte Hand in die Rechte des Bankiers. „Ich danke Ihnen!“
„Das Geld wird sofort telegraphisch überwiesen werden.“
„Gut! Nochmals Dank!“ Dann schwankte er hinaus wie ein Trunkener, nachdem er dem Bruder ein lakonischeS Telegramm geschickt hatte, das ihm die Ankunft des Geldes mitteilte, wanderte er durch die Straßen der Stadt, hinaus aus dem Thore, bis zu den Knien im Schnee watend. Die Anstrengung that ihm wohl; er war ganz allein auf der Landstraße mit den schnurgerade sich ausdehnenden Baumreihen zu beiden Seiten. Könnte man doch immer so geradeaus gehen! Immer geradeaus ohne Winkel und Hemmung, denselben geraden Weg bis zum Ende! So hätte er gehen mögen sein Leben lang; er hatte es auch gewollt.
Sein Fuß zögerte; wenige Schritte vor ihm hatte der Sturm einen starken Baum quer über die Straße geworfen. Er blieb eine Weile sinnend davor stehen. „Ja, ja, so trifft es,“ murmelte er leise. Dann wollte er im Bogen um das Hindernis herum, allein er hatte nicht acht auf den verschneiten Straßengraben und sank bis unter die Arme ein. Ein müdes Lächeln ging über sein Gesicht. Er dehnte sich wohlig in dem weichen Schnee, der seinen Körper umschloß. Hier schlafen, nur wenige Stunden, und es ware alles aus! Alles, alles aus!
Von fernher sah er den Turm von Weßnitz winken; ihm fiel ein, wie oft auf dieser Straße sein Vater beim gewohnten Spaziergang einhergeschritten war, kraftig, selbstbewußt, ein alter Recke auf seinem eigenen Grund und Boden. Hermann stützte plötzlich die Hände auf den Grabenrand und richtete sich auf.
Von neuem verfolgte er seinen Weg. Der Gedanke an Lore zuckte ihm durch den Sinn. Was mochte diese lange bange Nacht aus ihr gemacht haben? Seine Schritte wurden hastig, der Schweiß trat ihm trotz der Kälte auf die Stirn. Vorwarts! Vorwärts!
Er traf den Arzt noch im Gutshaus an.
„Typhöses Fieber! Kein Wunder bei ihrer allgemeinen Schwäche und dieser unsinnigen Reise! Die Frauen werden doch nie klug!“
Hermann blickte den alten Doktor sonderbar an. „Nein, klug niemals! Was halten Sie von dem Zustand der Kranken?“
„Fast hoffnungslos!“
„Doktor!“ rief Hermann, während seine Finger den Arm des Arztes umklammerten, so daß dieser zusammenfuhr. „Sie glauben –“
„Ich glaube nichts, Herr von Weßnitz! Aber es müßte ein Wunder geschehen –“
Hermann wandte sich stumm ab.
„Ich komme heut’ abend wieder, um neun Uhr, früher bin ich nicht nötig – können Sie mir einen Wagen schicken?“
„Ja, gewiß!“
„Was ich noch sagen wollte, Herr von Weßnitz – was macht Ihr Herr Bruder?“
„O, dem“ – Hermann schluckte ein paarmal trocken hinunter – „dem geht es gut.“
„Nun, dann verständigen Sie ihn telegraphisch.“
„Ich werde es thun. Kann ich meine Schwägerin sehen? Ist sie bei Besinnung?“
„Sie ist jetzt ganz klar, das Fieber wird erst in einigen Stunden wieder einsetzen.“
„Dann entschuldigen Sie mich wohl. Ich habe mit ihr zu sprechen.“
„Bitte sehr – also heut’ abend neun Uhr!“
Vorsichtig auf den Zehenspitzen schlich Hermann in das Krankenzimmer. Die Vorhänge waren herabgelassen, ein stumpfes gedämpftes Licht brütete in dem Raum.
„Bist Du es, Hermann?“ Eine schmale Hand streckte sich ihm entgegen.
„Ja.“ Er drückte einen Kuß auf ihre Rechte.
„Nein, laß! Nicht die Hand – küsse mich auf den Mund, oder auf die Stirn, wie wir es als Kinder gethan!“
Er erfüllte ihren Wunsch.
Sie lächelte zufrieden. „Mir ist der Kopf so wirr, Hermann! Wie kam das alles? Sieh, wie meine Hände brennen, und in den Adern ein Kochen, als würde flüssiges Blei hineingegossen.“
„Du hast Fieber, Lore!“
„Ja, Fieber! Der Doktor sagte, ich sei schwer krank; so schlecht fühle ich mich jetzt gar nicht. Ist das Geld fort?“ fragte sie plötzlich mit stockendem Atem.
„Ja, es ist telegraphisch überwiesen worden.“
„Also ein ehrlicher Name!“ Sie schloß die Augen. Es war ihm, alS sähe er das Blut in den feingeäderten Schläfen pochen.
„Lore!“
„Ja?“
„Soll ich Bruno rufen? Du bist sehr krank.“
„Glaubst Du, daß ich sterbe?“
„Nein, nein – das nicht –“
Ein traurigeS Lächeln flog über ihre Züge. „Ich fürchte den Tod nicht – es wäre vielleicht am besten so.“
Dann zog sie die Stirne nachdenklich empor, so daß sich die scharf gezeichneten Brauen mit den krausen Löckchen berührten. Ein Zittern ging durch ihre Glieder. „Nein, nein, rufe ihn lieber nicht! Ich kann ihn nicht sehen, nie, nie wieder!“
Mit einmal fuhr sie empor, und die Arme mit zuckenden Fingern weit von sich streckend, schrie sie: „Hilfe, Hilfe! Da steht er! Blut, Blut! Rotes Blut gerade unter der Schläfe! Weßnitz, Weßnitz!“
Hermann preßte die Rasende mit Gewalt in die Kissen und rief die Wärterin. Dann ging er.
Qualvoll verrannen die Stunden. Lange Zeit stand er vor der alten Wanduhr in seinem Zimmer. Gedankenlos folgte er mit den Augen dem kaum merkbaren Vorrücken des Minutenzeigers. So ging die Zeit vorüber, unaufhaltsam, unbekümmert um unser Wohl oder Weh, um Sterben und Leben – wohin? Schritt um Schritt vom ersten Atemzug an, dem Tod entgegen! Und zwischen der ersten und letzten Minute ein Menschenleben, durchgekämpft, durchgearbeitet, durchlitten! Für was? Für Nichtigkeiten!
Am Sofatisch baute der kleine Edgar Kartenhäuser. Raschelnd fiel das große Haus zusammen, das der Knabe mühsam gebaut hatte. Stumm sah Hermann dem Spiele zu. Bruno fiel ihm ein. Sollte er ihn nicht dennoch telegraphisch herbeirufen? Aber weshalb? Lore sehnte sich wahrlich nicht nach seinem treulosen Gesicht. Und doch, wenigstens schreiben mußte er ihm.
Hermann setzte sich an den Schreibtisch. „An Bruno von Weßnitz!“ – absichtlich vermied er die Anrede.
„Lore liegt schwer krank am Nervenfieber.
Für Dich giebt es nur eins, reiche sofort deinen Abschied ein! Ich will es so und ich habe ein Recht, es zu wollen, und Du die
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 582. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_582.jpg&oldid=- (Version vom 28.7.2022)