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Seite:Die Gartenlaube (1894) 583.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Pflicht, meinen Willen zu achten und zu erfüllen. Im Falle Deiner Weigerung werfe ich alle Rücksicht von mir und lasse Dich fallen. Wir haben nichts mehr miteinander gemein. Schicke mir das Eiserne Kreuz! Du wirst mich verstehen! Hermann.“     

Fest und klar standen die Buchstaben auf dem Papier.

Am Abend ließ Lore den Schwager noch einmal rufen. Sie war nur für kurze Augenblicke bei voller Besinnung.

„Was ist mit Edda? Weshalb ist alles vorbei? Sie ist so stark und klug, und meinem Edgar würde sie eine Mutter sein. Bringe das Kind zu ihr, wenn ich – –“

„Du darfst nicht sterben, Lore!“ Ein unsagbarer Jammer überkam ihn. So viel Jugend und Schönheit, so viel Liebe sollte sterben? Es konnte nicht sein!

Lore verlangte nach ihrem Knaben. Sie herzte ihn, als er gebracht wurde, und tastete dann nach Hermanns Hand, die sie dem Kind aufs Haupt legte. „Der da ist Dein Vater fortan! Schwöre mir, Hermann, Du giebst den Knaben nicht seinem Vater wieder – bring’ ihn zu Edda oder behalt’ ihn bei Dir!“

„Ja, das will ich,“ sagte Hermann mit schmerzlich zusammemgezogenen Brauen.

Der Arzt kam wieder. Höchstens noch einige Stunden Frist,“ lautete sein Ausspruch.

Lore hatte die Besinnung verloren, ihr Atem ging keuchend durch die blinkenden Zähne, von denen die Oberlippe krampfhaft zurückwich. Hermann saß neben ihr und starrte unverwandt in das vom Fieber entstellte Antlitz; Thränen standen in seinen Augen.

Mitternacht!

Da begann sie noch einmal zu sprechen, leise, kaum hörbar: „Auf dem Kirchhof unter der Linde neben Deiner Mutter – es wird alles – alles gut werden – ganz – ganz – gut –“

Ihr Körper streckte sich – sie war entschlummert.

Der Morgen dämmerte. Mit müden übernächtigen Augen blickte Hermann hinein in die schwankende Helle des neuen Tages. Dann verließ er die Tote. „Lebe wohl, Lore!“ – 0000000000

Man hatte die Dahingeschiedene hinausgetragen unter die alte Linde und eingesenkt in die kalte erstarrte Erde. Bruno war nicht gekommen. „Adressat gestern abgereist, ohne seinen Aufenthaltsort anzugeben“ hatte man aus Brüssel auf Hermanns Telegramm geantwortet, das die Todesnachricht enthielt.

Als Hermann einige Tage nach der Beerdigung in sein Zimmer trat, fiel sein Vlick auf den Kalender. Der erste Dezember!

Heute also, heute durfte er den Brief lesen, dessen Siegel der Wille des toten Vaters bis dahin verschlossen gehalten! Er holte das große Couvert mit den kräftigen Schriftzügen hervor und drehte es nachdenklich in den Händen, dann öffnete er es langsam.

„An meinen Sohn Hermann, Erbherrn auf Weßnitz.

Es muß Dir sonderbar erschienen sein, mein lieber Sohn, daß ich das Oeffnen dieses Briefes erst so lange nach meinem Tode gestattete, aber ich wollte erst die Erde fest wissen auf meinem Grab, wollte Dir Zeit lassen, alles zu ordnen, ich wollte in menschlicher Schwäche die Gewißheit haben, daß Du ein Jahr lang Deines Vaters Andenken fleckenlos in der Brust trügest. In den Schmerz um meinen Tod sollte sich nichts Häßliches eindrängen.“

Hermann hielt inne. Ein Frösteln überkam ihn, die Ahnung vor etwas Schrecklichem.

„Um alles zu verstehen, Hermann, mußt Du ein gutes Stück Weges mit mir zurückgehen. Ich hatte einen Freund, einen jungen Mediziner, auf der Universität zu Berlin, wo ich nach dem Willen Deines Großvaters einige Semester studierte. Er war einer der edelsten besten Menschen, der größte Idealist, der je den Fuß auf die Erde gesetzt hat, mir ein lieber lustiger Freund. Ich hing mit allen Fasern meiner jungen Seele an ihm – trotzdem habe ich ehrlos gegen ihn gehandelt.

Eines Abends, wir saßen zusammen in einem Restaurant, trat ein Losverkäufer an unseren Tisch. Es wurden verschiedene Lose genommen und Helm, so hieß mein Freund, kaufte eines mit mir zusammen. ,Ich will die Nummer nicht wissen,‘ rief er mir dabei zu. ,sonst bringt es kein Glück, und ich armer Schlucker hätte gern einmal einige Thaler! Behalte Du das Los und studiere die Ziehungslisten!‘ Lachend schob ich das Papier in die Tasche und dachte kaum wieder daran. Kurz darauf starb Dein Großvater und ich mußte Weßnitz übernehmen. Den Freund sah ich nicht wieder.

Dann kam das Unglück! Weßnitz war nicht schuldenfrei, die letzten Jahre waren schlecht gewesen – ich liebte Deine Mutter und wollte ihr ein Heim gründen.

Das Los gewann, zwanzigtausend Thaler, und ich – – hebe nicht den Stein auf, Hermann! – ich sagte dem Freund nichts davon, sondern behielt das Geld, vorläufig in dem Glauben, ihm in kurzer Zeit seinen Anteil auszahlen zu können. Ich steckte die ganze Summe in unser Gut, ich sparte wie ein Geizhals. Es ging langsam aufwärts in zwanzigjähriger Arbeit. Da machte Bruno Schulden und ich mußte dafür einstehen; es war vor dem Feldzug. Nun gingen unsere Verhältnisse rasch zurück, weil ich immer wieder schwach gegen Bruno war. Ich konnte die Schuld nicht mehr sühnen. Thu’ Du es, Hermann, ich beschwöre Dich! Jener Freund lebt als Arzt in Berlin, ich hörte durch Lore von ihm.

Glaube mir, diese Stunde, in der ich für Dich, gerade für Dich, meine Schuld niederschreibe, diese Stunde hat Höllenqualen für mich. Ich that jenen ehrlosen Schritt um Deiner Mutter, um des von den Vätern ererbten Gutes willen! Gott wolle es mir verzeihen!“

Aschgrau, die Zähne aufeinander gepreßt, die Augen geschlossen, saß Hermann da; in seinen Zügen arbeitete es, als zöge der Tod mit kaltem Griffel Furche um Furche darüber. Was hatte sein Vater ihm angethan! Ihm war, als falle die letzte Stütze, die ihn noch aufrecht erhalten. Er, er hatte Edda verlassen, sie in ihren heiligsten Gefühlen tödlich verletzt – und nun war sein eigener Vater schuld an jenem Verhängnis, das über ihrer Herkunft schwebte! Stumm blickte er um sich, als befände er sich in einer fremden Welt; kalte Schauer rieselten ihm durch den Körper. Im Halbdunkel schien es ihm, als huschten unheimliche Gestalten um ihn her, als stürmten sie heran gegen ihn, ertötend, erstickend.

Er sprang auf und riß an der Klingel. „Licht, Licht! Schnell!“

Der alte Diener warf einen besorgten Blick auf seinen Herrn. „Wollen der gnädige Herr denn gar nichts essen?“

„Essen, Johann? Ach ja, bringe mir etwas! – Natürlich, man muß essen,“ murmelte er dem abgehenden Diener nach.

Dieser stellte nach wenigen Minuten kalte Küche und eine Flasche Portwein auf den Tisch.

„Es ist kalt hier, Johann mich friert! Zünden Sie Feuer im Kamin an!“

Als dies geschehen und Johann das Zimmer wieder verlassen hatte, setzte er sich an den Tisch und genoß etwas von den Speisen. Rasch stürzte er einige Gläser Wein hinunter; eine wohlige Wärme ergoß sich in seine Adern, er begann freier zu atmen.

Was sollte er thun? Zum erstenmal seit Tagen fragte er sich wieder danach. Dort lag noch der Brief seines Vaters. Er faltete ihn zusammen und schrieb einige Worte dazu: „Ich habe nichts weiter hinzuzusetzen. Das Geld kann ich zu meinem Bedauern nicht sofort zurückerstatten; es wird meine einzige Lebensaufgabe sein, die Erledigung dieser Schuld in kürzester Zeit möglich zu machen.“

Dann fiel ihm ein, daß er vergaß, jenen eine Anzeige von Lores Hinscheiden zu senden; er fügte daher noch hinzu: „Lore ist vor vier Tagen hier gestorben. Es ist alles aus! Seien Sie zum letztenmal von einem gegrüßt, der wie ein Schwächling an Ihnen gehandelt hat, getreu dem Vorbilde seiner Familie!
Hermann von Weßnitz.“ 

Tief aufatmend erhob er sich und trat ans Fenster; heller Mondschein glitt in bläulichen Lichtern durch die Bäume auf den Schnee herab. Ein zwingendes Verlangen nach der schweigenden Natur, nach winterlicher Nacht, nach Bewegung erfaßte ihn. Schnell entschlossen drückte er seinen Jagdhut auf den Kopf und eilte hinaus.

Wie lange er durch den Schnee gestürmt war, durch den Wald, über die öde trostlose Heide, er wußte es nicht. Wie im Traum langte er wieder vor der Hausthür an.

„Der junge Herr ist da,“ flüsterte ihm Johann schon im Hausflur zu.

„Welcher junge Herr?“

„Der Herr Legationsrat!“

„Es ist gut! Ist er in meinem Zimmer?“

„Jawohl, gnädiger Herr.“

Wie Blei lag es ihm in den Gliedern, als er die Treppe hinaufstieg. Aber es mußte sein! Zum letztenmal!

Vom Sofa löste sich bei seinem Eintritt eine Männergestalt.

„Guten Tag, Hermann. Hu, die Kälte – sie geht durch Mark und Bein!“

Hermann starrte wortlos in Brunos Gesicht. War das sein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 583. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_583.jpg&oldid=- (Version vom 28.7.2022)
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