Verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
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Hoffnungen ruhen; aber auf den Grabhügeln blühen jedes Frühjahr neue Blumen, und im Sommer gar geben die Rosen köstlichen Duft. Ich grüße euch, ihr Blumen all’; ich grüße dich, junge liebliche Rose, die du jetzt wohl in der Ferne schlummernd das Haupt geneigt – –
Es war ein heißer Julitag des vorigen Jahres, da wanderte ich meinem Ziele zu, dem Hause des Freundes. Den Stab fröhlich schwingend, schritt ich aus, durch Felder, die der Ernte entgegenreiften, durch niedrigen Kiefernwald, auf den die Sonne sengend niederbrannte. Endlich lag es vor mir, das Dorf, über dem ein stumpfer Kirchturm aufragte, ein Haufen weißer und grauer Häuser und Hütten mit dunklen Dächern hier und da ein einzelner Baum über dem Giebel aufragend, sonst kein Schmuck und keine Zier irgend welcher Art. Still und stumm, wie erstorben war alles in der Glut des Sommernachmittags. Gleich einem Geist fürchterlicher Langweile lag es über Wald und Feld und Dorf. Es wurde einem schwer, daran zu glauben, daß da Menschen wohnen könnten mit schlagenden Herzen, mit schaffenden Gedanken, Menschen, die Freud’ und Leid fühlten. Aber einen wußte ich, in dem lebte das alles, der hatte sich mit seinem reichen übersprudelnden Geiste hineingebaut in diese Einöde und in ihr sein eigen Reich aufgerichtet, barmherzig und hilfreich niederblickend auf die ihm anbefohlene Schar. Der wohnte da in dem Hause neben der Kirche, das den strohgedeckten Giebel über all die anderen Dächer hob und über dem eine Linde mit runder Krone aufragte.
Eilig schritt ich durchs Dorf. Alles still, alle draußen beim Heu. Dort lag der Pfarrhof der Kirche gegenüber; eine Mauer trennte den Vorgarten von der Straße, zur Seite davor war ein großes Einfahrtsthor, das offen stand. Ich überblickte den Hof – unordentlich und heubestreut lag er da, in einer Ecke ein rostiger Pflug, an der Scheunenmauer eine Egge und dicht daneben eine Hundehütte, deren Bewohner wohl auch dem Bann zum Opfer gefallen war, der über dem Dorf lag: er schlief. Aber jetzt mußte er die Nähe eines Fremden wittern, plötzlich mit wütendem Gebell fuhr er heraus, daß er sich fast an der Kette erwürgte, und heulte mich an. Gut, daß ich nicht näher herangetreten war.
Da schallte eine Samme aus der offenstehenden Stallthür: „Tyras, infamer Köter, willst Du das Maul halten!“ und ein gut gezielter Stein fuhr dem lärmenden Tier in die Rippen, daß es mit kurzem Aufheulen in die Hütte kroch. Der Werfende stand in der Stallthür, eine große ziemlich hagere Gestalt, bartlos, mit ergrauendem Haar. So stand er in Hemdärmeln da, mit der einen Hand die Augen vor der Sonne schützend, um nach mir auszuspähen.
„Ist Herr Pastor Oswald zu sprechen?“ rief ich hinüber.
„Ja, das ist er, treten Sie nur näher!“
Langsam kam der Mann in dem ungeordneten Anzug auf mich zu. „Können Sie mich melden?“ fragte ich und hielt ihm meine Karte hin. Er nahm sie, blickte darauf, sah mich an, und zweifelnden zögernden Tones fragte er, und etwas wie grenzenloses Erstaunen und plötzliche Verlegenheit malte sich auf seinem Gesicht: „Pastor Siegfried Willmann – Sie sind doch nicht –“
„Ja, Werner, ich bin’s!“ sagte ich und stützte mich unwillkürlich mit beiden Händen auf meinen Stock. Ja, es war Werner! Der elegante ritterliche Student, der hochfliegende Geist – den ich augenscheinlich beim Ausräumen seines Stalles gestört hatte. Ein Vierteljahrhundert!
Verlegen gab er mir die Hand. „Alter Freund, das freut mich ja! Aber warum hast Du Dich nicht angemeldet?“ sagte er gemessenen Tones, ohne Ausdruck der Freude.
Mich fror beinahe, trotz der glühenden Hitze. „Ich wollte nur im Vorbeigehen bei Dir vorsprechen,“ log ich, „ich bin auf einer Fußreise und hatte zufällig erfahren, daß Du hier wohnest –“
„Hast Dir aber eine wunderliche Zeit und eine wunderliche Gegend ausgesucht zum Wandern!“ sagte er mit einem verlegenen Lachen. „Bis zum nächsten Krug sind’s zwei Stunden, und zum Uebernachten ist’s hier und dort nicht gemacht für patente Leute wie Du. Wir fahren hier alle vierter Klasse durchs Leben und Du jedenfalls zweiter. Entschließ’ Dich, bei mir fürlieb zu nehmen! Viel kann ich Dir nicht bieten –“
Da wallte mir das Herz über. „Werner!“ rief ich, ließ den Stock fallen und legte ihm beide Hände auf die Schulter, „biet’ mir nur die Hand wie einst und biet’ mir Dein Herz!“
Er sah mir in die Augen. „Du alter treuer Gesell!“ sagte er leise, und dann plötzlich laut. „Da hast Du sie beide!“ – und er streckte mir die Hände hin und schüttelte die meinen mit aller Kraft. „Ich hätt’s nicht geglaubt, daß das Leben noch diese Freude für mich aufbewahrte!“ Er zog mich an sich und sah mir lange in das Gesicht. „Lohn’ Dir’s Gott, daß Du mich aufgesucht!“
„Weißt Du’s denn nicht mehr, unser Abschiedswort. Was Du auch thust, das thu’ mit Bedacht, und behalte mich lieb ...?“
„Ja . . . das thu’ mit Bedacht!“ sagte er langsam und senkte den Kopf. „Aber nun komm’ – und erwarte nichts, gar nichts!“ fuhr er fort. „Dann mag’s sein, daß Du zufrieden davon gehst.“
„Elsbeth!“ rief er mit lauter Stimme zum Hause hinüber, „Elsbeth!“
Auf der Küchentreppe erschien eine übereinfach gekleidete Frau, deren Gesicht noch die Spuren einstiger Schönheit trug, jetzt aber welk geworden war und müde vergrämte Züge zeigte. „Meine Frau!“ sagte er nachlässig.
Also das war seine Frau, die Frau des verzogenen Lieblings der Frauen! Ich hatte im Stillen an eine hochfeine Salondame gedacht. So irrt man sich im Leben!
„Was soll ich denn?“ fragte sie mit matter Stimme. „Ich muß das Abendbrot machen.“
„Dann mach’ für einen lieben Gast mehr!“ rief er. „Hier –“
Sie musterte mich, den Grüßenden, mit erstauntem Blick.
„Mein lieber alter Studienfreund und Bundesbruder, Siegfried Willmann, von dem ich Dir oft erzählt –“
Sie kämpfte im Näherkommen mit dem Versuch, freundlich auszusehen. „Ach so, das sind Sie,“ meinte sie, die Hände an der blauen Küchenschürze abtrocknend. „Ja, Ihr Bild ist auch im Album und man erkennt Sie noch!“ Sie reichte mir eine feuchte harte Hand. „Aber Sie haben’s schlecht getroffen, wir sind beim Heuen –“
„Red’ nur nicht so viel!“ unterbrach er sie fast rauh. „Mein Freund bleibt über Nacht hier. Nun zeig’, was Du kannst und zu allererst gieb uns einen Tropfen zu trinken!“
„Was denn? Bier haben wir nicht mehr –“
„Bring’, was Du hast!“ rief er, „wir gehen in die Laube, wenn Karl kommt, soll er mit Else allein abladen.“
Sie wandte sich ohne ein Wort. Immer lag die müde Duldermiene auf ihrem Gesicht.
„Komm’!“ sagte Werner kurz. „Wart’ einen Augenblick, ich will nur meinen Rock anziehen.“
Da stand ich allein – und wünschte mich hundert Meilen weit weg. Wie anders war das, als ich gedacht hatte!
Dann saßen wir in einer verwilderten Jasminlaube in einem verwilderten Garten. Ich verschmachtete fast. „Hast Du nicht ein Glas Wasser?“ bat ich.
Da kam Frau Elsbeth den Gartensteig einher. Sie hatte eine frische Schürze umgethan und das Haar glatt gestrichen. In den Händen hielt sie ein Theebrett mit Kanne und Tassen. Geschäftig stellte sie es nieder. „Was soll das?“ fragte er erstaunt.
„Ich habe schnell Kaffee gemacht,“ antwortete sie wie erfreut über ihre Findigkeit. „Ich hatte gerade kochendes Wasser.“
„Aber Liese, der Mann verdurstet hier, und Du willst ihm Kaffee vorsetzen?“ brach er los. „Fort mit dem Zeug!“
Sie sah kopfschüttelnd wie fragend gen Himmel und lief aufs Haus zu. „Hier sind die Schlüssel!“ rief er ihr nach. „Wo willst Du denn hin? Da rennt sie los – entschuldige!“ bat er, und aufspringend eilte er hinterdrein. Dann hörte ich einen kurzen lauten Stimmenwechsel, und dann war’s wieder still, still wie im Grabe. Einmal flog eine Biene summend durch das Gerank der Laube, das war alles. „Das ist deine Welt, armer Freund,“ dachte ich und stützte den Kopf schwer auf. „Lieber tot!“
Da störte mich das Rollen eines Wagens, der auf den Hof fuhr. Ich sah über das Gebüsch des Gartens weg den Gipfel eines hohen Fuders Heu und gleich darauf hörte ich ein vielstimmiges markdurchdringendes Geschrei – das Fuder war verschwunden. Jedenfalls war es im Vorfahren umgeworfen worden. Ich sprang auf und rannte den Steig hinunter. Richtig, ein ungeheurer Haufen Heu und ein umgestürzter Wagen und dazwischen und daneben lag und kroch es heulend und weinend – eine Anzahl von Kindern, die offenbar oben auf dem Heu gesessen hatten. Werner hielt wetternd die unruhigen Pferde am Gebiß, und Frau Elsbeth stand mit gerungenen Händen und verzweifeltem Blick rat- und hilflos vor dem Kinderhaufen. „So greif’ doch zu!“ schrie er sie an.
Ich sprang vor und hob von den Kleinen eins nach dem andern auf. Es waren, wie ich jetzt sah, vier Jungen, von etwa
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 608. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_608.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2022)