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Seite:Die Gartenlaube (1894) 614.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

umgab. Die alte Dame war eine unbestechliche Richteriu in Sachen der Ehrenhaftigkeit und des guten Tones, leutselig gegen Untergeordnete, stolz gegen die „zweite“ Gesellschaft und immer bereit, Freunden ihren Rat zu erteilen, die Vertraute der jungen und alten Frauen in Ehestandsgeschichten. Einem derben Witz nicht abhold in gesetztem Kreise, besonders nicht beim Whist, war sie von naserümpfender Empfindlichkeit bei dem kleinsten Verstoß, den eine jugendliche Person gegen die Etikette machte. Nebenbei konnte sie als lebendes Adelslexikon gelteu und als Chronik sämtlicher interessanter Familiengeschichten. Eine alte Bekannte der Eltern meiner Mutter, duzte sie diese und sprach von mir immer herablassend als dem „Kücken“. Sie hielt gleich mir das Andenken meines Vaters als das eines vollendeten Kavaliers hoch in Ehren und deshalb liebte ich sie ehrfürchtig. Meine Mutter aber war ihr anerkanntes Schoßkind, ihr ganzer Verzug.

„Vornehm ist sie, die Helene, bis in die Fingerspitzen,“ sagte sie einmal zu mir, „Du hast nicht viel von ihr, Anneliese, leider! Sahst Du je ein so edles Profil, eine so aristokratische Hand? Und schon der Gang – diese Ruhe in ihren Bewegungen, in ihren Aeußerungen! Das ist ihr angeboren, das ist Rasse, mein Kücken. Sie hätte eine süperbe Hofdame abgegeben. Und wie sie alles trägt! Wenn ich nicht wüßte, daß es ihr knapp geht, ich hielte sie für eine Millionärin. Comme il faut, sehr comme il faut ist Deine Mutter, Anneliese.“

Zu ihr war Mama gegangen. Sie blieb sehr lange aus. Meine Lehrerin hatte sich längst entfernt, ich aber stand wie auf Kohlen und wartete, denn erstlich hatte die Base nach ihr gefragt und zweitens war der Geldbriefträger mit einem Schreiben dagewesen und dieses Schreiben hatte fünf große Siegel gehabt und durfte nur an Mama persönlich abgegeben werden – jedenfalls etwas noch nicht Erlebtes seit Papas Tode.

Ich hielt es endlich nicht mehr aus, nahm Jacke und Mantel und suchte Mama bei der Komtesse auf. Die alte Dienerin öffnete mir und flüsterte – bei der Komtesse gehörte das Leisesprechen zu den Erfordernissen des guten Tones, nur sich selbst gestattete sie eine Ausnahme; sie hatte ein Organ wie ein Wachtmeister und machte den ergiebigsten Gebrauch davon – Frau von Sternberg sei noch anwesend, ich möchte doch im Gartensaal warten, derweil sie mich melden gehe. Ich stand gleich darauf dem Spiegel gegenüber in dem recht kühlen Zimmer, das einen Saal zu nennen nur eine sehr kühne Phantasie sich erlauben konnte, und studierte meine Persönlichkeit, einen Spiegel, in dem man sich ganz sehen konnte, gab’s zu Hause nicht.

Komtesse hatte recht, so schön wie Mama sah ich nicht aus – ach, du lieber Himmel, es fehlte dazu sehr viel! Das kastanienbraune seidige Haar, das in üppiger Fülle Mamas zartes längliches Gesicht umrahmte, vertraten bei mir kurze krause dunkle Locken, der Teint war etwas gelb, das Gesicht nicht länglich, sondern rund. Dunkle gerade Brauen zogen sich über einem Paar Augen, die etwas allzu weit aufgeschnitten waren – wie die Komtesse meinte, beinahe so groß wie die der Mutter. Ein zu kurzes Näschen und leidliche Zähne vervollständigten das Gesicht; dazu mager wie ein junges Kätzchen und klein, sehr klein, während Mama gewachsen war wie eine Juno.

Mit einem Achselzucken wandte ich mich ab und der Nebenthür zu, die von einem geblümten Kattunvorhang verhüllt wurde; von dort scholl plötzlich die Stimme der Komtesse herüber.

„Also, meine liebe Lene, wenn ich das Quartier für achtzig Thaler bekomme, so mache ich die Sache fest.“

„Ich wäre Ihnen sehr dankbar, liebste Komtesse.“

„Es ist zu dumm, Lene, daß es wieder nichts wurde mit der Stiftsstelle für die Anneliese, es giebt halt zu viele arme adlige Mädel, zu viele, man könnte rein auf den Jahrmarkt damit ziehen. Na, verzage nicht, Len’, ’s ist manchmal wunderlich im Leben, irgend etwas findet sich, und Hungers stirbt heutzutage niemand. Es wird sich schon, wenn alle Stricke reißen, ein gutes Haus aufthun, in dem man eine Erzieherin als Dame respektiert, möglicherweise findet sich auch eine Partie für sie. Halt ihr nur den Daumen aufs Auge, daß sie dereinst nicht anfängt wie die Lore Tollen, die sich da von dem Raubautz, dem Becker, anhimmeln läßt! Ich werd’ der alten Tollen aber ’mal gründlich den Star stechen,“ setzte sie grimmig hinzu. „Du weißt, Len’, ich bin nicht hochwütig, und nimmt sich das Mädel den Doktor Schönberg – in Gottes Namen, wenn’s einmal durchaus geheiratet sein muß! Aber diesen – diesen –“

„Anneliese ist ja noch ein Kind, Komtesse,“ unterbrach meine Mutter die Eifernde, „und sie muß noch lernen, viel lernen, um dereinst auf eigenen Füßen stehen zu können. Armes Ding!“ schloß sie mit einem Seufzer.

„Lene, die alte Geschichte mit Deiner Selbstanklage, daß Dir der Bruder lieber war als das eigene Kind! Das laß unterwegs und fang’ nicht an zu flennen; die paar Thaler hätten sie wahrlich auch nicht auf eigene Füße gestellt. Du hast Dir das Leben damit verbittert und Deinem Manne dazu; mach’ nicht so weiter, es ist unrecht!“

„Komtesse, ich weiß nicht, was ich vor Freude thäte, könnte ich das kleine Kapital wieder ersetzen, das ich ihr für meinen Bruder stahl – jawohl, gestohlen hab’ ich es. Oder ist es kein Stehlen,“ fuhr sie mit erhobener Stimme fort und machte damit den Einwand der alten Dame verstummen, „wenn ich in meiner Sorge um den Bruder das Kind in der Wiege vergesse und immer vor den Augen meines Mannes umhergehe in meiner Verzweiflung und meiner Angst um Herbert und was aus ihm werden solle? Und als er nun so traurig und still dasaß und überlegte, ob er mir helfen dürfe oder nicht, da habe ich – – aber das können Sie nicht verstehen, Komtesse,“ schaltete sie ein mit jener drolligen Ueberlegenheit, die verheiratete Frauen den unverheirateten gegenüber unwillkürlich an den Tag legen. „Ich will nur sagen, daß er mich unvernünftig lieb hatte, daß er mir keinen, selbst nicht den nur geahnten Wunsch abschlagen konnte, wenn ich wollte, und in diesem Falle wollte ich, daß er mich verstand, daß er das erste Wort spreche, wollte, daß er ebenfalls die Zukunft seines Kindes vergesse. Und ich erreichte es – leise, als ob ihm die Sprache schwer werde, sagte er: ‚Nimm doch das kleine Kapital, Helene, nimm, aber werd’ ruhiger! Und weine nicht mehr, ich kann’s nicht sehen.‘ Und ich pflichtvergessenes Menschenkind, ich schlang den Arm um seinen Hals und nahm das Opfer an! Als das Geld abgesanbt war, ich hatte es selbst zur Post getragen, da kam ich mit leichtem Herzen nach Hause und wollte zu ihm, ihm danken. Ich fand ihn nicht in seiner Stube, und als ich ihn suchte, da saß er an der Wiege und hatte das Kind herausgenommen und herzte und küßte es. ,Du armer Wurm!‘ sagte er, mit einem Tone, Komteß – ach da begriff ich erst, was ich gethan und – –“

„Lene,“ unterbrach ae die Komtesse, „die Geschichte kenn’ ich auswendig, sie wird zur fixen Idee bei Dir! Laß das Grübeln darüber! Ihr habt beide nicht recht und doch recht gethan! Du lieber Himmel, macht denn das bissel blöder Mammon allen Segen aus? Nebenbei ändert Dein Heulen nicht das Geringste mehr an Eurer Thorheit – das Kind muß eben ohne die dreitausend Thaler durchs Leben. Und jetzt hörst Du auf zu weinen, Len’! Was ist los?“ unterbrach sie sich, zu jemand anders sprechend. „Wie? Anneliese ist da, Len’ – und das sagt das alte Kamel mir erat jetzt! Nicht finden konnten Sie mich? Herr des Himmels, ich bin doch keine Stecknadel! Wo ist sie denn? Na, das fehlte noch, Len’, daß das Kücken Deine Bußlitanei mit angehört hätte!“

„Anneliese! Anneliese!“ scholl ihr Ruf hinter mir her, die ich schleunigst in den Garten geflüchtet war und mich dort bemühte, mit möglichst unbefangener Miene die großen roten Weinranken der Laube zu betrachten. Um die Welt hätte ich Mama nicht sehen lassen mögen, daß ich nun wußte, weshalb sie sich so grämte, und nur um – lächerlich – um dreitausend Thaler! Mama hatte doch ihre Witwenpension!

„Da steht ja das Gör’, Len’. – Also ich geh’ zu Schulzen und miete die Wohnung, er wird sie schon lassen für achtzig Thaler.“

Ich kam artig herbei und küßte der Komtesse die Hand.

„Siehst blaß aus, Du Taternkind! He, Lene, wo hast Du dieses Kücken eigentlich den Zigeunern abgejagt? Weiß Gott, sie ist wie geradeswegs aus Spanien verschrieben – und Dein Mann war so ein urdeutscher Blonder.“

Meine Mutter zog mich lächelnd an sich und strich mir zärtlich über das Gesicht. „Wie lieb von Dir, Anneliese, daß Du mich abholst,“ sagte sie weich.

Auf dem Heimwege berichtete ich Mama von dem Briefe. Sie sah mich nicht an, sie nickte nur leise und beschleunigte ihren Schritt. Zu Hause angelangt, fanden wir den Briefträger, der eben die Treppe wieder herabkam, nachdem er vergeblich an unserer Thür geklingelt hatte. Mama öffnete das Schreiben und las es im Stehen, ohne Hut und Mantel abgelegt zu haben. Natürlich hing ich mit brennender Neugier an ihrem Gesicht.

„Mama, hast Du schlechte Nachrichten?“ fragte ich ängstlich,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 614. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_614.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2022)
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